Reifeprüfung

Ich erwähnte gelegentlich, dass ich hinsichtlich der allermeisten Aspekte der Weinbegeisterung ein Durchschnittsmensch bin. So mag es kaum verwundern, dass auch ich nach einigen Jahren des Probierens bei Bordeaux-Weinen anlangte. Selbst wenn sich daraus keine meinem Riesling- und Spätburgunder-Faible vergleichbare Leidenschaft entwickelte, übt Bordeaux Faszination auf mich aus. Als ich vor einigen Jahren endlich einen zur Weinlagerung geeigneten Keller mein Eigen nennen durfte, lagerte ich mir prompt einige Kisten mittelgewichtiger Gewächse ein. Ein kleiner Traum ging in Erfüllung. Aber die Freude war nicht ungetrübt. Ich stand vor den Kisten mit diesen faszinierenden Namen und wusste nicht: wann trinken?

Die Recherche war ergiebig: es gab und gibt bergeweise Literatur mit Empfehlungen zu Trinkreife. Doch bei genauerem Hinsehen trat ein Problem auf. Als ich die Empfehlungen der vier mir zugänglichen Quellen nebeneinander legte, ergab sich der perfekte Widerspruch. Wo Johnsons Zeitfenster zugeht, fängt Parkers manchmal erst an. ‚Vinum‘ drängt mich zur Eile, wo Gabriels ‚Weinwisser‘ zur Geduld ermahnt. Einigkeit herrscht eigentlich nur in einem: nach der Ankunft im Keller erst mal nicht anrühren – ob zwei oder fünf Jahre kommt schon auf die Quelle an.

Nun werden Weine aus Bordeaux in Zwölferkisten verkauft. Also beschloss ich den Selbstversuch und mache von einigen Weinen jetzt alle paar Jahre einen auf und notiere. Das schult meinen Gaumen nur bedingt, weil sich einzelne Jahrgänge in der Reife erheblich unterscheiden können, ist aber eine prima Ausrede, um jederzeit edlen Stoff ins Glas zu kriegen. Einen nichtigeren Anlass als: ‚Ich muss überprüfen, wie es um den Reifeverlauf steht‘, kann ich mir kaum vorstellen. Dieser Tage war es mal wieder so weit.

Chateau Giscours, Rotweincuvée, 2004, Margaux (3. GCC), Frankreich (Bordeaux). 65% Cabernet Sauvignon, 30% Merlot, 5% Cabernet Franc. Ich habe den Wein nicht karaffiert. Nach einer Viertelstunde war er voll da und hielt sich über mehrere Tage, wobei er am ersten Tag am schönsten war. In der Nase dominierten das Fass und der Cabernet: ziemlich viel Holz, daneben Johannisbeere, Cassis und grüne Paprika. Am Gaumen war der Wein sehr jugendlich aber auch zugänglich. Johannis-, Blau- und Brombeeren gesellten sich zu auch hier deutlichen Holzaromen. Reifenoten oder Tertiär-Aromen fehlen vollständig: kein Leder, Zeder, Tabak, Waldboden, Kuhstall, Kakao, Trüffel oder ähnliches, stattdessen eine kühle Frische und mineralische Struktur. Überhaupt ist es vor allem die Struktur, die Spaß macht: Mittlerer Druck am Gaumen, eher seidige Textur, spürbare Säure und mineralischer langer Abgang machen diesen Wein sehr elegant, wenngleich über allem noch kräftiges Tannin liegt. Jetzt einen Tick besser als die erste Flasche vor zweieinhalb Jahren. In Punkten ausgedrückt sind das für mich 91.

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