Acht Weine machten den Unterschied zwischen einer schönen Probe und einem Großereignis in Sachen Riesling, inklusive liebenswerten Anzeichen von Kontrollverlust und Träumen vom Picknick im Weinberg.
Die Einleitung zum zweiten fiel anders als die zum ersten Teil unserer Gräfenberg-Probe aus. Wilhelm Weil erklärte uns, was sich da in unseren Gläsern befand: Die Weine stammen aus einer Zeit, als nicht die gesamte Produktion im Weingut auf Flaschen gefüllt, sondern teils fassweise an Händler und Kommissionäre verkauft wurde, die eigene Abfüllungen vornahmen. ‚Die besten Fässer blieben dabei immer im Gut‘ so Weil. Und dort blieben sie länger unangetastet als heute. Wenn es nach ein paar Jahren an die Füllung ging, wurde aus den besten dann häufig noch das allerbeste Fass ausgesucht, separat gefüllt und diese Weine kamen in das ‚Cabinet‘ – die namensgebende Schatzkammer. Dann wiederum dauerte es teils Jahrzehnte, bis den Weinen jene besondere Qualität zuerkannt wurde, die bedeutete, dass sie ihren Platz in der hintersten Ecke des Cabinets fanden – bei den Weinen für die nachfolgenden Generationen. Die ausgesuchten Jahrgänge waren also die bestausgesuchten Flaschen aus den bestausgesuchten Fässern der außergewöhnlichsten Jahre eines halben Jahrhunderts. Mehr Selektion geht nicht und ich wunderte mich, dass unser gleichzeitig so großzügige wie bescheidene Gastgeber so viel Wert auf diese Feststellung legte. Wir waren uns alle unseres Privilegs bewusst.
Doch dann schloss er mit Worten, die die Erläuterung in ein völlig anderes Licht rückten: ‚Bei allem Respekt vor der Leistung der Vorfahren sollten Sie nicht vergessen, wie es zu diesen Weinen kam, wenn Sie sie jetzt verkosten‘. Weil wollte uns die Weine mitnichten besonders anpreisen. Er wollte verhindern, dass wir sie überhöhen, gewährte uns womöglich unfreiwillig Einblick in das Seelenlebens eines Spitzenwinzers in vierter Generation. Vielleicht hat er gefühlt bei jeder Ernte einen Rucksack auf, darin die besten Flaschen aus 150 Jahren und die Geister dreier Generationen, die ihm über die Schulter schauen und nur für ihn hörbar flüstern: ‚Wilhelm, mach das bloß ordentlich!‘ – ich weiß es nicht, aber es klang ein bisschen so.
Auch Profis sind zu Liebe fähig
Wir kehrten zur mir vertrauten Methode zurück, die Weine von jünger nach älter zu verkosten. Und das Bild änderte sich gegenüber dem ersten Teil. Von schräg links gegenüber kam ein wohliges Glucksen. Der Chefredakteur eines wichtigen Weinmediums verliebte sich spontan in den 53er. Ich sann noch über Weils Worte, als ich aus dem Augenwinkel mitbekam, wie Dirk Würtz das Glas zum Probeschluck 49er Spätlese ansetzte, sich es beim Absetzen auf halbem Wege anders überlegte und den Wein dann in einem Zug austrank. Er sollte später behaupten, eine höhere Macht habe von ihm Besitz ergriffen. Ich neige dazu ihm zu glauben, denn diese Macht versuchte ihr Glück auch bei mir. Ich konnte zwar widerstehen, nach drei Schlucken war aber auch meine 1949er Spätlese ausgetrunken. Bei den besten Weinen des Flights kam der Spucknapf bei keinem der Verkoster zum Einsatz. Die liebenswerten Anflüge von Kontrollverlust, die allenthalben zu beobachten waren, hatten aber samt und sonders nichts mit Alkohol zu tun. Wir hatten einfach ganz große Weine im Glas.
Wie schreibt man über Riesen?
Und es sind Weine von Welt, über die die bekanntesten Weinautoren schon geschrieben haben. Eine Flasche 1921er Auslese erzielte bei Christie’s ein Auktionsergebnis von 20.000 Mark, bis heute gültiger Rekord für deutschen Wein. Soll ich jetzt wirklich schreiben, dass der 53er, der den Chefredakteur zum Glucksen brachte für mich ein ‚ganz netter Wein‘ war? Zeit für Kontext.
Ich bin kein besonderer Altweinliebhaber. Ausgeprägte Tertiäraromen sind meine Sache nicht. Wer jetzt einwendet, dann wäre ich auf der falschen Veranstaltung gewesen, dem will ich versichern, dass beileibe nicht alle alten Weine Altweinaromen aufweisen. Der frischeste Wein des Flights war der 1921er Cabinet.
Der trockene 53er war für mich ‚erstaunlich gut für sein Alter‘, während die Spätlese nach Pflaster roch. So wie ich verstehen kann, dass Altweinfans diese Weine groß finden, mögen diese mir durchgehen lassen, dass ich sie … naja, halt ‚ganz nett‘ fand.
1949 Kiedrich Gräfenberg Riesling Cabinett erschien dafür deutlich jünger, zeigt eine knackige Säure und wirkte alkoholisch, was ihm sehr gut stand. Leichter Stinker in der Nase, typische Gräfenberg-Röstung: großer Wein, der allerdings mit Luft rasch abbaute.
Die fruchtsüße Spätlese aus dem gleichen Jahr ist eine der besten (wenn nicht die beste), die ich je getrunken habe – gefühlt halbtrocken, extrem frisch, aber maximal komplex. Dirk Würtz vorgeschlagener Einbruch in die Schatzkammer, zum Zwecke uns mit einer Flasche dieses Weines zu bewaffnen, in den Gräfenberg zu setzen und glücklich zu sein, scheiterte nicht an unserem Gewissen, sondern einzig an den Sicherheitsvorkehrungen.
Aus dem Jahr 1934 zeigten beide Weine eine Note von durchfeuchtetem Korken, aber eine geöffnete Konterflasche zeigte: es ist ein Jahrgangston. Beide Weine sind nicht schlecht, gehen in diesem Feld aber unter.
1921 Gräfenberg– die Ältesten werden die Jüngsten sein
Und dann waren da die 1921er. Im trockenen fand ich Zitrusaromen und Aprikose. Er war aromatisch nicht so komplex, wie ich das erwartet, weswegen ich ihn blind mindestens 60 Jahre jünger geschätzt hätte. Was mich elektrisierte, waren diese perfekten Gräfenberg-Röstaromen und ein enormer Zug mit einer gewissen Leichtigkeit. Die trockenen Altweine lagen alle bei 8-10 Gramm Restzucker, die Spätlesen um 30-50 Gramm. Die Spätlese ist ebenfalls ein großer Wein, der die ausgeprägteste Gräfenberg-Aromatik zeigt, und feines Spiel bietet. Gegen 1949 ist 1921 aber chancenlos.
Meine Einschätzung ist nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung. Alle alten Weine waren große Weine, die ihre Fans fanden. Für einige lag 1953 vorne, für andere 1921, für mich 1949 – nur 1934 fand nicht so viel Anklang (wenngleich ich nicht alle 25 Teilnehmer befragt habe). Die trockenen Weine reifen – alle 38 Weine betrachtet – etwas besser als die süßen, wenngleich sich das wieder ändern könnte wenn Weil den Weg der Verschlankung der Spätlese konsequent weiter verfolgt. Das wichtigste Fazit aber ist, dass der Berg alles besiegt: den Jahrgang, das Fass, den Stahltank und sogar den Süßegrad. Wenn der Berg noch nicht mit lauter (leicht rauchiger) Stimme spricht, ist der Wein nicht schlecht, sondern zu jung. Ich werde auch in Zukunft bei jedem Gräfenberg, den ich trinke, auf den Genuss achten, aber ich werde jede schlechte Flasche in Schutz nehmen. Das ist jetzt quasi mein kleiner Rucksack aus Kiedrich – allerdings einer mit hohem Tragekomfort.