Bei mir daheim hängt der Haussegen schief. Meine Frau sagt, ich mache unserer Tochter Angst. Ich solle aufhören ständig laut durchs Haus zu rufen. Aber ich kann nicht anders. Ich habe ein neues Lieblingsspiel: Wein Social Media Bullshit Bingo. Das geht ganz einfach. Ich durchstöbere – meist morgens beim zweiten Kaffee – die sozialen Netze Twitter, Instagram, Facebook und Pinterest nach Fotos der Weine, die mein virtueller Freundeskreis am Vorabend geleert hat. Dann betrachte ich die mitgelieferten Texte und vergleiche mit meiner Bingo-Karte. Bei vier richtigen in einer Reihe rufe ich BINGO. Ich rufe oft BINGO – in letzter Zeit nahezu ununterbrochen.
Aber WSMBB (so meine Abkürzung) macht wahnsinnig viel Spaß. Probieren Sie es aus. Hier ist meine Karte. Sie können sie nach eigenem Gusto verändern oder erweitern.
2014 war – ich bin immer noch im Jahresrückblicksmodus – das Jahr, in dem Wein in den sozialen Medien seinen vorläufigen Höhepunkt erlebte. Davon bin ich überzeugt (glaub ich, also irgendwie, sozusagen, ein bisschen). Und das liegt daran, dass sich ein Trend aus 2013 fortgesetzt hat: die Demokratisierung der Weinsprache. Ganz viele neue Worte kamen dazu und etliche klangen richtig gut. Und wenn man ein paar davon im Zusammenhang mit bestimmten Weinen fallen ließ, hatte man auf einmal ganz viele Menschen, die den Gefällt-mir-Knopf drückten. Also machten immer mehr mit – immer öfter und mit immer den gleichen Worten. Der Vorteil an brandneuen Worten ist der Interpretationsspielraum, den sie lassen. Also macht der Autor nie was falsch, der Leser interpretiert nur nicht richtig.
Ich habe kein Problem damit, also meistens nicht. Einmal hatte ich doch ein Problem. Da hab ich einen wahnsinnig tollen Wein getrunken, aber mich nicht getraut jemandem davon zu erzählen. Der Wein stammte von einem besonderen Weingut. Wie es im Gault Millau einen ‚Aufsteiger des Jahres gibt‘, so gibt es meiner Meinung nach in den sozialen Netzen eine Entsprechung: den Bullshit-Bingo-Magneten des Jahres. Da kann das Weingut nichts für. Es ist ein vergiftetes Lob, weswegen den Titel keiner haben will – und deswegen habe ich die Klappe gehalten. Aber jetzt traue ich mich. Es ging um einen Wein von Enderle & Moll. Mein Wein war der einfache Spätburgunder aus 2010, Beifang eines Einkaufs aus dem Jahr 2012. Einfach so ohne Erwartung aus den Beständen geholt, getrunken und total begeistert gewesen.
Enderle & Moll, Spätburgunder, 2010, Baden. In der Bis-zwölf-Euro-Liga habe ich 2014 nichts Besseres getrunken – mein Rotwein des Jahres. Aber bei Weinen von Enderle und Moll findet sich in der Bildunterschrift immer burgundisch und wild, der Wein war aber so burgundisch wie Semmelknödel und das einzig Wilde an ihm ist die Haarpracht des Kellermeisters. Vereinfacht gesagt, zeigt der Wein eine unfassbare, kühle Eleganz (was für mich das Gegenteil von Wildheit ist) und dann findet sich im Aromenspektrum neben Grafit, rohem Fleisch und Himbeere auch dieser (dezente) Touch von gekochten Beeren, den es angeblich nur in Deutschland gibt. Aber diese Art der Herkunfts-Bezeugung – das Beste vom Vorbild gepaart mit dem Typischsten der Heimat, muss man erst mal auf die Flasche bringen. Und wenn ein Wein sauber, sortentypisch und ausdrucksstark ist, dann nenne auch ich das ‚fokussiert‘ (Nein, kein BINGO, ein Wort macht noch kein BINGO).
Aber warum hat das Phänomen seinen Zenit überschritten? In diesem Glauben bestärken mich Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. Immer häufiger mischen sich unter die Beifallsbekundungen zu solcherart Weinbeschreibung nämlich kritische Töne und die werden immer schriller. Einige wirken wie Konservatismus, andere wiederum verlangen nach Weinbeschreibungen, aus denen sie schließen können, wie der Wein tatsächlich schmeckt, wohl weil sie im Sinn einer Kostnotiz die Beschreibung des Weingeschmacks und nicht der Gefühlswelt des Winzers oder Konsumenten sehen. Andere finden das engstirnig und rückwärtsgewandt. Die Lager reagieren zusehends unversöhnlich. Die Glaubenskrieger sind von der Leine gelassen und das ist meist der Punkt an dem sich diejenigen, die das alles nicht so eng sehen wollen, einem anderen Thema zuwenden. ‚War nett mit Euch Weinfuzzis, aber jetzt wird’s mir zu stressig.‘
Neulich schrieb ein Bekannter unter das Foto einer Flasche, der Wein röche nach rostigem Stoßdämpfer. Ein paar Tage zuvor hatte er wohl unter ein anderes Foto geschrieben, der zughörige Wein röche nach rostiger Eisenbahnschiene. Also brach eine Diskussion los. Ob das Weinbeschreibung sei? Ob er damit implizit behaupten wolle, dass er den Unterschied zwischen rostigen Stoßdämpfern und Eisenbahnschienen erriechen könne, zumal überdeckt von anderen Weinaromen? Und ob das nicht viel mehr über den Autor als über den Wein aussage? Unterstützer wiederum machten sehr deutlich, was es ihrer Meinung nach über die reklamierenden Vorredner aussage, dass sie überhaupt so despektierliche Fragen stellten – um den Wein ging es in keinem einzigen der elftausend Kommentare (vielleicht waren es auch elfmillionen).
Da ich nicht wusste, wie ich das Phänomen einzuordnen habe, erzählte ich meiner Ehefrau bei einem schönen Glas Weißwein von diesem ernsten Hintergrund meines Bingospiels. Ihre Antwort kam prompt: ‚Lattenzaun!‘ Nun habe ich es mir eigentlich abgewöhnt, meine Frau in Weindingen zu belehren, kam aber nicht umhin anzumerken, dass unser Riesling erstens aus dem Stahltank stammte und zweitens wirklich kein Bedarf an neuen Ausdrücken für Holzaromen in Weißwein herrsche.
‚Dummerchen,‘ sprach meine bessere Hälfte, ‚der Lattenzaun bezog sich nicht auf unseren Wein, sondern auf die Tatsache, dass Sprache sich entwickelt. Früher hätte man sich gefragt, ob Deine Weinheinis noch alle Tassen im Schrank, heutzutage eher ob sie noch alle Latten am Zaun haben, wenn sie sich öffentlich über rostige Schienen streiten. Die Zeiten ändern sich.‘
Da hat sie recht. Das war die Lösung. Weinsprache muss sich entwickeln! Ich war ihr für diesen wertvollen Beitrag zu meiner Meinungsfindung so dankbar, dass ich spontan versprach zukünftig etwas leiser ‚Bingo‘ zu rufen.
Jetzt erst gelesen, für zutreffend befunden und belustigt. Stimmt. Und die Frauen haben auch recht..
Das ist das Beste, was ich seit langem über den Selbstdarstellungswahn im www gelesen habe. Danke! Ich mußte heftigst schmunzeln.
Kompliment an die Dame. Vermutlich kentn sie das eh. Ist mir aber sofort eingefallen…
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum,
Ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.
(Christian Morgenstern)
Nein, war unbekannt 😉