Selber fälschen

In meinem linkskonservativen Facebook-Freundeskreis herrscht in politischen Dingen große Einigkeit. Nur eine Frage spaltet die Gemeinde: wer eher den Ehrenplatz in der Hölle verdient, Lobbyisten oder FDP-Wähler. Ich sehe das anders. In meinen Augen hat alles seine Berechtigung, Freidemokraten ebenso wie Lobbyisten – und die Hölle sowieso.

Lobbyisten sind es allerdings, die einen großen Teil der Diskussionen prägen, die meine Freunde rund um Wein betreiben. Es geht um die Geiz-ist-Geil-Mentalität und die Tatsache, dass deutsche Konsumenten jede zweite Flasche Wein beim Discounter kaufen. Ich glaube an den mündigen Verbraucher und ich konnte mir nie vorstellen, dass wir wirklich ein Volk von Weinbanausen sind. Also habe ich etwas getan, was ich eigentlich nie tue: ich habe recherchiert.

Ich habe keinen journalistischen Anspruch und schaue mir im Internet lieber Weindiskussionen an, als mich auf Faktensuche zu begeben. Da traf es sich gut, dass Recherche zum deutschen Weinmarkt kein komplexes Unterfangen ist. Das Deutsche Wein Institut (DWI) veröffentlicht regelmäßig Informationen. Die Statistik 2012-2013 steht als PDF bereit. Und siehe da: auf Seite 31 stehen Zahlen. Knapp 2 Milliarden Liter Wein kaufen die Deutschen jedes Jahr, 550 Millionen davon beim Discounter. Das ist weit weg von ,jede zweite Flasche‘. Surft man durchs Netz findet man den Fehler. Von den 1,17 Milliarden Litern, die der Deutsche im Handel kauft, sind die 550 Millionen Lidl-Liter tatsächlich fast die Hälfte. Da hat dann einer vom anderen abgeschrieben und langsam verflüchtigten sich die Spezifizierungen, bis aus jeder zweiten Handelsflasche jede zweite Flasche wurde.

Wir Weinfreaks repräsentierten gerade einmal 2% des Marktes, heißt es immer wieder in Diskussionen. Auch dazu finden sich Zahlen. 260 Millionen Liter kaufen die Deutschen direkt bei Winzern und Genossenschaften. Das sind 18%. Nimmt man den Fachhandel mit seinen 120 Millionen Litern dazu, fließt sogar ein Viertel des daheim genossenen Weines durch die Kehlen von Liebhabern. Das ist eine erhebliche Größe.

Wieso reden dann alle nur über Discounterweine? Wieso kommt keine öffentlich-rechtliche Magazinsendung mehr ohne Discounterwein-Blindverkostung aus? Der Grund ist einfach: die Lobbyisten vom DWI. Tatsächlich kostet Wein unendlich wenig Geld. Nur Bier ist – gemessen am Preis pro Gramm enthaltenen Alkohols – marginal billiger. Das billigste Bier kostet rund 50 cent pro Liter und enthält 5 % Alkohol. Der billigste Liter Wein mit etwas über 10% kostet 1,29 Euro – im Tetra Pak. Man kann in Deutschland ein Leben im permanenten Vollrausch für weniger als Hundert Euro pro Monat führen, vorausgesetzt man hält sich an Bier und Wein. Schnaps ist erheblich teurer.

Bier und Wein müssen teurer werden, notfalls über steuerliche Maßnahmen, schrieb denn auch die damalige Drogenbeauftragte Sabine Bätzing 2008 in ihr nationales Aktionsprogramm gegen Alkoholmissbrauch. Zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig, etwa genau so viele Personen betreiben Alkoholmissbrauch, ohne im medizinischen Sinne abhängig zu sein. Zehn Prozent der trinkfähigen Bevölkerung kippen sich mehr als die Hälfte des hierzulande verkauften Alkohols hinter die Binde. 200 Millionen Liter Wein wechseln im Tetra Pak den Besitzer, 100 Millionen davon bei Aldi und Co, schrieb die WELT in einem Artikel von 2007. Und auch die Flasche 1,39 Euro Pinot Grigio von Netto dürfte zur ,Grundversorgung für Vieltrinker‘ zählen, wie Michael Willkomm, Chef der Großkellerei Peter Mertes im Gespräch mit der Welt einen Teil seiner Produktion nennt.

Um zu verhindern, dass der Bodensatz der weintrinkenden Gesellschaft zum Argument für Extra-Steuern auf Wein wird, eignet sich ein Mittel besonders gut: die Bildung des Durchschnitts. Also gibt der Deutsche ,im Schnitt‘ 2,50 Euro für einen Liter Wein beim Discounter aus. Das hämmert die Lobby-Organisation DWI seit einigen Jahren der deutschen Öffentlichkeit ins Hirn. Es wird vom Verbraucher und Weinliebhaber geredet. Doch wer die bedauernswerten Geschöpfe, die sich hektoliterweise Frankentaler einflößen, ,Weinliebhaber‘ nennt, der hält Sodomisten auch für Tierfreunde.

Quelle: DWI
Quelle: DWI

Mehr als die Hälfte der im LEH und Discount abgesetzten Flaschenweine kostet laut WELT weniger als 1,50 Euro (zugegeben, die Zahl ist von 2007), da bleibt für die restlichen Flaschen 2,99 Euro: Mutti trinkt Blanchet oder Gallo und das ist kein deutsches Phänomen. Ich mag mich irren aber mir bietet sich ein einfaches Bild: Viele Deutsche trinken günstige Markenweine, einige trinken etwas teurere Markenweine und noch weniger – aber eben keine verschwindend geringe Zahl – trinken Winzerweine. Wir haben eine ganz normale Weinkultur. Leider haben wir als Volk ein Alkoholproblem. Dank der Durchschnittbilderitis einer Lobby-Organisation entsteht aus diesen beiden Polen des Weinmarktes ein Zerrbild. Im Ergebnis wird der unentschlossene Wein-Neuling von den Medien mit der Botschaft bombardiert, billiger Wein sei prima. Die ist Ausfluss einer Schutzstrategie für Großkellereien, finanziert mit den Marketinggeldern auch der handwerklichen Erzeuger. Wenn ich Qualitätswinzer wäre, ich käme aus dem Fluchen gar nicht mehr raus.

Da ich mich aber nicht zu ärgern brauche, genieße ich lieber einen handwerklichen Wein. Einen, der in jeder Hinsicht die Statistiken manipuliert: Er ist ein Exot und sauteuer (verglichen mit dem Durchschnitt). Mein erster Sauvignon Gris hat mächtig Spass gemacht. Weinkultur eben.

Knipser, Sauvignon Gris, 2005, Pfalz. In der Nase würzig mit etwas Holz, blondem Tabak, sehr reifer Birne, Quitte und Johannisbeere. Am Gaumen wieder Holz und Rauch,die Säure ist sehr präsent, Apfel und dann Pfeffer hoch drei, Der Wein hat Zug zum Tor, mittleres Volumen, unauffällige 12,5 % Alkohol und einen sehr langen Abgang mit viel Pfeffer aber ohne Veltliner-Verwechslungsgefahr. Hat mir ausnehmend gut gefallen.

Seelenstriptease

Ich glaube ja, der Weinkeller eines Menschen sagt eine Menge über seine Psyche aus, ich kann‘s nur nicht beweisen. Erste Indizien dafür fand ich bei mir selbst, aber das ist hinlänglich in Blogbeiträgen aufgearbeitet. Ich habe mittlerweile auch einen emotionsloseren Umgang mit Wein gelernt (zumindest mit Einkaufslisten). Was ich jedoch immer noch an mir beobachte, ist eine Art, Weine aus meinem Keller zum Trinken auszuwählen, die mein Wesen widerspiegelt. Beispielsweise belohne ich mich gelegentlich, tröste mich aber so gut wie nie. Wenn meine Stimmung eingetrübt ist, krame ich fast immer Flaschen hervor, die ein hohes Risiko eingeschränkten Genusses mit sich bringen. Diese Art des Fatalismus kenne ich auch aus dem richtigen Leben. Während es dort gelegentlich unangenehme Nebenwirkungen zeigt, wirkt es sich auf die Ordnung in meinem Weinkeller positiv aus. Wo in anderen Keller Weine immer weiter nach hinten wandern, weil die Aussicht auf Genuss eher gering ist, reicht bei mir ein wenig schlechte Laune, um die Kellerleichen zu entstauben und ihrer Bestimmung zuzuführen. Zugute halte ich mir dabei, dass ich es in der Regel sehr tapfer hinnehme, wenn der gewählte Wein tatsächlich kein Vergnügen ist.

Bei meinem enttäuschenden Erlebnis mit dem hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Müller-Catoir vor zwei Wochen hatte ich mir einen Restschluck für den dritten Tag überbehalten. Der war gar nix. Und so ging ich mit frischen, schlechten Erinnerungen an diese Episode auf die Suche nach einem neuen Wein. Mir fiel einer in die Hände, den ich als glatten Fehlkauf verbucht hatte, ein weiterer 2003er Spätburgunder. Den hatte ich blind gekauft hatte, weil er einer der ausgezeichneten Weine des Pfälzer Barrique-Forums aus seinem Jahrgang war (damals machte ich mir noch etwas aus Medaillen). Die erste Flasche dieses 30 Monate in neuen Barriques ausgebauten Pinots war jedoch eine Katastrophe. Geizig in der Frucht präsentierte er eine solche Wand aus Holz im Mund, dass ich alle Hoffnung fahren ließ, das könne jemals etwas werden. Bis der sein Holz verdaut hat, dachte ich, ist das bisschen Frucht längst weg.

Wegner_Dürkheimer_Schenkenböhl

Ich mach es kurz: Ich hab mich geirrt. Hat die Laune enorm gehoben.

Wegner, Dürkheimer Schenkenböhl, Spätburgunder ,im Barrique gereift‘, 2003, Pfalz. In der Nase viel Kirsche, dazu Kakao, Tabak und (immer noch eine Menge) fein eingebundenes Holz, nicht ganz typisch aber angenehm. Am Gaumen zeigt der Wein eine moderate Säure, kräftiges Holz zu dem sich aber auch schöne Frucht (Kirsche und Himbeere) gesellt. Der Alkohol trägt eine leichte Süße bei, die 14 % fallen aber nicht weiter negativ ins Gewicht. Der Abgang ist recht lang. Das ist ein sehr angenehmer Wein, der damals 15€ gekostet hat, was aus heutiger Sicht sehr günstig erscheint.

Wie stellt man selber Essig her?

Irgendwann kommt für jeden Menschen der Tag, an dem er sich über seine Gesundheit Gedanken macht. Manche brauchen dafür länger und einige benötigen einen Warnschuss vom eigenen Körper, die meisten befassen sich jedoch ohne besonderen Anlass in ihren Zwanzigern mit dem Thema, so auch ich. Seitdem (und tatsächlich erst seitdem, gestehe ich reumütig) folge ich einem ehernen Prinzip: Ich bin kein Mülleimer. Der letzte Schluck Wein im Glas, der letzte Bissen Kuchen auf dem Teller oder das letzte Würstchen auf dem Grill: früher habe ich so was mit den Worten ,bevor es in den Müll kommt…‘ in mich hinein befördert, selbst wenn ich keinen Hunger oder Durst mehr hatte. Seit meiner inneren Gesundheitsklausur ist das anders. Wenn ich heuer zu viel esse oder trinke, dann vorsätzlich.

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Die Reifeprüfung

Vor etlichen Jahren spülte mir eine kleine Hype-Welle drei Flaschen einer Spätburgunder Auslese aus dem Hause Müller-Catoir in den Keller. Über viele Jahre hatte der Kellermeister des Gutes versucht, einen guten Spätburgunder zu keltern. Da er daran immer wieder gescheitert war, beschloss man, mit der Ernte 2003 den betreffenden Weinberg zu roden. Allerdings übernahm 2002 die nächste Generation der Müller-Catoirs das Ruder und auch im Keller übernahm ein neuer Mann. Dieser kelterte den letzten Jahrgang Spätburgunder und hatte auf Anhieb mehr Glück. Was schließlich 2005 seinen Weg in die Flasche fand, wurde preisgekrönt und von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt – schade nur, dass der Weingarten gerodet war.

Das ist die Art Geschichte, die aus Weinen Legenden macht. Der Wein musste in meinen Keller. Und ob des müden Renommees kostete der Stoff nur 14 Euro. Drei Flaschen konnte ich noch ab Gut ergattern, es seien die letzten wurde mir mitgeteilt. Eine trank ich ziemlich bald nachdem die Weine mich erreicht hatten mit meinem Vater an einem lauen Sommerabend in meinem Garten. Es war ein famoser Spätburgunder, der alles hatte, was ich von einem eher dicken Vertreter des Genres erhoffe: satte Frucht, stabile Säure, schmirgelnde Mineralik, spürbaren Holzeinsatz, Tiefe und Länge bei einer der Dichte fast widersprechenden Eleganz.

Es ist mein Fehler, dass ich bei Weinen, die Komplexität und Klasse mit noch deutlichen Spuren von Holzeinsatz und jugendlicher Frische kombinieren, stets glaube, diese Weine hätten noch ganz viel Potential. Ich neige auch dazu, dass ich mir gute Dinge immer besser Wünsche; wer mich in dieser Hinsicht gierig nennt, riskiert keineswegs meine Freundschaft. Die Hoffnung, ein Wein der besten Güte könnte mit Lagerzeit noch zu größter Klasse reifen, füllt in meinem Keller so manches Regal. Klappt nur leider nicht immer. Genau genommen geht es öfter in die Hose als es gut geht. Ich geb‘ es mir nur meist nicht zu.

Der letzte Jahrgang ohne VDP EmblemSo war es auch beim Müller-Catoir. Eine vier Jahre später getrunkene Flasche war nicht so harmonisch wie die erste. Der Wein stand eher in einzelnen Komponenten nebeneinander als das Frucht, Säure und einsetzende Reife ein harmonisches Ganzes gebildet hätten. Ich legte die letzte Flasche beiseite für sehr viel später. Dieser Tage war es dann soweit. Ich hatte Gäste und nach einer Reihe feiner Weine machte ich als Absacker für diejenigen, die noch Wein trinken mochten den Wein mit der schönen Historie auf – solche Geschichten verdienen schließlich Publikum. Leider spielte der Wein nicht mit. Er hat seinen Zenit überschritten. Er ist nicht gänzlich hinüber und er bereitet noch Vergnügen aber ich möchte meinen verlängerten Rücken zum Biss freigeben, dass ich nicht einfach mit den drei Flaschen damals eine Jungweinorgie gefeiert habe.

Müller-Catoir, Spätburgunder Auslese trocken, 2003, Pfalz. In der Nase Kirsche, Pflaume und grüne, florale Noten, dazu leichte Alterstöne. Am Gaumen feine Frucht mit Himbeere und Pflaume, dazu eine leichte Teernote, spürbares Holz, etwas grobes aber nicht störendes Tannin und leider eine nicht angenehme, vorstehende Säure und wieder grüne Noten. 14,5 % Alkohol sind hervorragend eingebunden, der Abgang ist lang aber auch etwas gezehrt.

Mein erster Latour

Ich habe mir einen Traum verwirklicht. Die vollständige Beschreibung meines Traumes geht ungefähr so: Ich möchte einmal im Leben einen in Würde gereiften Premier Grand Cru Classé aus Bordeaux trinken (genauer: Medoc, also Chateau Mouton Rothschild, Margaux, Lafite, Latour oder Haut-Brion). Dabei liegt die Betonung auf trinken, denn probiert habe ich schon mehrere dieser Weine. Bei meinem Traum geht es um eine ganze Flasche für mich und meine Frau (die kaum Rotwein trinkt und daher nicht ins Gewicht fällt). Ich habe einiges an Arbeit in diesen Traum gesteckt. Die will ich hiermit protokollieren.

Die Moral (wenigstens hier kommt erst die Moral und dann das Fressen)
Darf man einen Wein für über hundert Euro die Flasche trinken, wenn gleichzeitig hunderte Millionen Menschen nicht mal sauberes Trinkwasser haben? Ich finde, das ist eine berechtigte Frage. Meine Antwort ist ein bedingtes Ja. Menschen, die sich jeden Dienstag einen 300€-Wein aufmachen, weil Dienstags eben ,Latour-Tag‘ ist und die die angebrochene Flasche dann dem Ausguss übereignen, wenn um Mitternacht der ,Yquem-Tag‘ anbricht, wären mir vermutlich unsympathisch (so ich ihnen denn je begegnete). Aber dafür, sich als Weinliebhaber den Traum von einem der berühmtesten Weine der Welt zu verwirklichen, muss man sich nicht schämen. Mein Latour kostete deutlich weniger als viele andere Wunsch-Erfüller wie eine Fahrt im Fesselballon, Bungee-Irrsinn an berühmten Orten oder exklusive Eintrittskarten zu Festspielen in Salzburg oder Bayreuth. Es fragt ja auch niemand einen Stones-Fan, wie er bitte für ein Konzert-Ticket 150 Euro bezahlen kann, während anderswo Menschen Hunger leiden. Als Weinfreund höre ich vergleichbare Fragen häufiger.

Die Weinwahl
Schlechte Jahrgänge großer Weine werden von Kennern oder wohlhabenden Trotteln getrunken – erstere können auch in schwachen Vertretern eines Weines dessen Typizität erkennen und sich an ihr erfreuen, wofür sie bewusst in die Tasche greifen, letztere sind die Dummen, die es braucht, um den durchgeknallten Bordeaux-Markt am Leben zu erhalten. Ich bin weder das eine noch das andere, hatte mir eine Budgetobergrenze gesetzt und wollte was anständiges ins Glas bekommen. Also benötigte ich einen Wein, der von Parker nicht in unbezahlbare Sphären geschrieben, einigermaßen verfügbar und mindestens gut beleumundet war. Der Jahrgang 1989 bot sich an; ein Jahr, von dem ich im Internet gelesen hatte, dass seine Weine sich sehr gut entwickelt haben und von dem Parker selber irgendwo schrieb, er sei bei der Bewertung vielleicht ein wenig streng gewesen. Dass es Latour und nicht ein anderer Premier wurde, ist Zufall.

Die Vorbereitung
Mein Plan war alt und die Umsetzung hatte ich zunächst auf die lange Bank geschoben. Ein paar Wochen nach der Lehman-Pleite durchschritt der Sekundärmarkt für gereifte Bordeaux ein Tal der Tränen. Das war die Zeit für meinen Einkauf. 140€ bezahlte ich für meine Flasche. Zwischenzeitlich hatte sich der Preis erholt, jetzt befindet er sich aber wieder im Sturzflug. Es sollte mich nicht wundern, wenn er demnächst noch unter mein Einstandsniveau sinkt.

Die Erwartung
Meine Erwartung war ganz einfach: ,Das wird eine mittelmäßige Erfahrung‘. Das lag vor allem an meiner nicht vorhandenen Bordeaux-Affinität. Einem Vegetarier ist es ja auch egal, ob ich ihm Hals oder Lende vom Schwein serviere, es wird ihn beides nicht begeistern. Den Plan für meinen gereiften Latour fasste ich schon vor bald zehn Jahren, da war ich mir meiner mangelnden Begeisterung für bordelaiser Gewächse nicht bewusst. Der gereifte Latour würde aber auf jeden Fall meinen Horizont erweitern.

Die Durchführung
So einem Wein sollte man einen würdigen Rahmen schaffen. Ich briet Rehrücken und in der Soße verkochte ich einen halben Liter eines vernünftigen Medocs, der immerhin auch schon 12 Jahre alt war. Ich trank den Wein zunächst solo und war wenig begeistert. Das war noch weniger, als ich erwartet hatte. Meine Frau sah das anders und trank den Latour mit Vergnügen. In der Hinsicht war er also etwas besonderes. Sie versprach, genügend zum Essen übrig zu lassen und ich machte mir etwas anderes auf. Zum Reh allerdings wandelte sich das Bild. Der Wein passte so dermaßen gut zu Bambi, dass ich bei einer Blindprobe den Inhalt meines Weinkellers verwettet hätte, dass es sich um einen anderen Wein als den zuvor probierten handele.

2013-02-03 20.28.35Das Fazit
Das war ein Erlebnis, das zunächst deutlich weniger und dann deutlich mehr Punkte als die in der Literatur allenthalben zu findenden 90 bekommen hätte, wenn ich denn Punkte vergeben würde. Es war eine positive Überraschung, die mich motiviert, Bordeaux nicht ganz aus meinem Weinkanon zu verbannen. Einen gereiften Premier für einen dreistelligen Flaschenpreis werde ich mir sicher nicht noch einmal zulegen, Anlass zur Reue sehe ich aber keinen.

Chateau Latour, Grand Vin de Chateau Latour, 1989, Premier Grand Cru Classé, Paulliac, Bordeaux. In der Nase Johannisbeere, Holz und Viehstall, alles nicht sehr intensiv aber sehr angenehm. Am Gaumen ist der Wein zunächst etwas langweilig, als Begleiter zum Rehrücken spielt er allerdings groß auf: viel süße Frucht, vor allem Johannisbeere, etwas Kirsche, die Säure verleiht Frische, das Tannin ist fein und gereift, trotzdem griffig, wirkt auch im sehr langen Abgang noch nach. Der Alkohol ist mit 12,5% sehr moderat. Der Wein hat eine tolle Struktur: voll und intensiv ohne schwer oder dick zu sein.