Charta Riesling Rheingau

Hidden Champions zum Spottpreis

Charta feiert 40. Geburtstag und wir nutzten die Gelegenheit, mal nachzuschmecken, was von der einst wichtigsten Weinbewegung der Republik noch übrig ist. Wir haben unser blaues Wunder erlebt.

Jubiläen sind dazu da, Aufmerksamkeit zu generieren und die eigene Bedeutung zu unterstreichen. Es liegt in der Natur des Menschen anzunehmen, dass erfolgreich und sachkundig ist, wer seit langer Zeit ein Geschäft betreibt. Bei der Winzervereinigung Charta, mittlerweile so etwas wie eine Arbeitsgruppe innerhalb des VDP-Rheingau, ist alles anders. Sie hätte sich irgendwann wegen Zielerreichung auflösen sollen und hat das auch ein bisschen – nur das zwölf der ehemals über vierzig Mitglieder weitermachen wollten. Das ergab im Nachhinein Sinn, weil sich der ursprüngliche Erfolg als Pyrrhussieg erwies, weswegen aus den zwölf dieses Jahr wieder 13 werden – es ist Zeit für eine Erklärung.

Die Mutter aller Klassifikationen

Charta hieß der Verein, den ein gutes Dutzend Winzer unter der Federführung von Bernhard Breuer und Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau 1984 gründeten (hier gehörten noch einige Personen mehr gewürdigt, aber das überlasse ich den offiziellen Festschriften). Ziel des Zusammenschlusses war die Erarbeitung eines ernsthaften Qualitätsleitfadens für deutschen Riesling. Jenseits von Prädikaten, fokussiert auf Geschmacksbilder und mit einer ehrlichen Einschätzung der Güte hiesiger Herkünfte. Es war die Geburtsstunde des GG – das ohne fast parallel gestartete Initiativen in der Pfalz und Rheinhessen so aber nicht gekommen wäre. Die vollständige Geschichte ist zu lang für diese Gelegenheit.

Der Verein Charta und der VDP hatten nach einiger Zeit so deckungsgleiche Ziele, dass der VDP Rheingau unter Aussetzung der üblichen Regularien die gesamten Charta-Winzer aufnahm. Für Weingüter wie Barth, Jakob Jung oder Allendorf war die Charta-Bewegung ein riesiger Glücksfall, weil Eintrittskarte in den VDP. Nicht zuletzt deswegen halten diese Erzeuger die Fahne der Charta auch weiter hoch.

Charta Kapseln

Charta-Weine sollten die besten Weine sein, aus den besten Lagen mit einem für den Rheingau typischen Geschmacksbild. Dazu gehörte eine gewisse Leichtigkeit. Die Weine spielten in der Kabinett-Liga. Und es war nicht furztrocken, weswegen 13 Gramm Restzucker pro Liter den gestatteten Höchstwert markierten. Der Wert hielt auch Einzug in das Rheingauer Erste Gewächs, das irgendwann eine weinrechtliche Basis fand. Da der Rheingau zu Hessen gehört, stellte das die rheinland-pfälzischen Anbaugebiete vor Probleme, weswegen das geplante EG dort zum GG (und ab 2004 gesetzlich trocken) wurde, was auch zu kompliziert für diesen Text ist. Irgendwann ‚drösel‘ ich das alles mal in einem Podcast auf. Am Ende wurden die Probleme so groß, dass 2013 der Rheingauer VDP seine verbandsinternen Sonderrechte aufgab und die Spitzenweine als GG ohne die Rundbögen auf dem Etikett vermarktete. Damit gaben die VDP-Betriebe ihren Spielraum bezüglich des Geschmacksbildes auf, denn von nun an waren auch die Spitzenweine der VDPisten zwischen Hochheim und Lorch gesetzlich trocken.

Aber wer sagt, dass trocken besser ist? Und was macht man, wenn die Kunden das anders sehen? Man besinnt sich auf die gute alte Charta zurück und nimmt einen neuen Anlauf.

Ein Riesling aus dem Rheingau schmeckt herb, was nicht heißt, dass er süßer als der Rest ist (feinherb ist heute Synonym für oder ein bisschen süßer als halbtrocken, das ist jedoch eine neue Interpretation). Ursprünglich war er trockener als die meisten, verfügte aber immer noch über ausreichend Zucker um die Riesling-typische Säure im Zaum zu halten. Mit ein paar Jahren Reife kam Schmelz dazu und die ganze Kiste integrierte sich zu einem harmonischen Ganzen. Dieses Geschmacksbild ist in vielen Teilen der Welt immer noch verbreitet, während in Deutschland ‚trocken‘ langsam zum Fetisch wird. Charta pflegt den alten Stil und es gibt Betriebe, die exportieren 40.000 Flaschen Charta im Jahr.

Harmonisch trocken – echt jetzt!

Da mittlerweile das Erste (heute Große) Gewächs die Aufgabe des Spitzenweines übernommen hatte und das Motto nicht ‚entweder oder‘, sondern ‚sowohl als auch‘ heißt, erfuhr der Charta-Wein eine neue Ausrichtung. Die Trauben müssen zwar aus klassifizierten Lagen stammen, der Lagenname ist aber tabu. Chaptalisation ist verboten, das Lesegut hat reif zu sein, ein Prädikat kommt aber auch nicht zum Einsatz. Also ein Wein, der bezeichnungstechnisch alles unter den Teppich kehrt, was ihn auszeichnet? Eben nicht, weil er vor allem von Menschen gekauft wird, für die Charta selbst eine Auszeichnung ist. Entsprechend kommen die Weine mit einer einheitlichen Kapsel mit romanischem Doppelbogen statt VDP-Adler auf den Markt. Das Geschmacksbild würden Werbestrategen als ‚harmonisch-trocken‘ bezeichnen, nur dass das hier kein Schönreden ist.

Mit Flaschenreife als Speisenbegleiter, vielfach in der Gastronomie in fernen Ländern – ein Winzer sagte mir vor ein paar Jahren, das sei der Wein, bei dem er so gar keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten deutscher Kunden nehmen müsse. Etliche der zwölf verbliebenen Produzenten lieben ‚ihren‘ Charta und halten leidenschaftlich an ihm fest. Der Wein läuft durch eine sensorische Prüfung, die im wesentlichen eine Kollegenprobe ist. Die erste dieser Art findet noch mit Fassmustern statt und was man hört, wird dort auch gerne mal empfohlen, den Kandidaten noch ein bisschen gären zu lassen, beziehungsweise so zu cuvéetieren, dass kein ‚Zuckerschwänzchen‘ entsteht. Nach unserer ausführlichen Probe möchte ich behaupten, dass alle zwölf Produzenten ‚dienende Restsüße‘ als geschmacklich dienend interpretieren, nicht als absatzfördernd. Was hingegen ganz klar absatzfördernd wirken soll, sind die Preise. Charta-Rieslinge kosten zwischen 15 und 20 Euro.

Der dreifache Test

Charta 2022 Test

Anlässlich des Jubiläums bot mir die Charta-Gruppe eine umfangreiche Bemusterung an: alle aktuellen Weine sowie die Reste der mittlerweile weitgehend geplünderten Schatzkammer plus ein paar gereifte aus dem letzten Jahrzehnt. Wir konnten also Weine aus der Zeit verkosten, als Charta noch die Spitze der Pyramide darstellte (und teils mit Lage auf dem Etikett erschien). Dazu gab es ein Jahrzent gereifte Ausgaben der aktuellen Interpretation – die es so ja auch erst seit gut zehn Jahren gibt. Den Anfang machte die Gegenwart, die ich meinen Mitstreitern blind ohne den geringsten Hinweis servierte.

Charta Riesling 2022

Robert Weil: Bunte Nase mit etwas Aloe Vera und Kräutern, mittelgewichtig, ordentliche Säure, aber auch schmelzig, hat Biss und Grip, ist extrem ‚lecker‘, ohne viel Firlefanz, oder wie Mitverkoster Ollie es ausdrückt: ‚ganz normal‘ (im erfreulichen Sinne).

Flos Favoriten
Juror Flos Favoriten

Freimuth (mit Geschmacksbezeichnung ‚feinherb‘): Vorwiegend würzige Nase, aber auch fruchtig mit sehr reifer Aprikose, Orange und Passionsfrucht. Am Gaumen dazu passend eine kräftige Säure, harmonisch, sehr schön.

Barth: In der Nase viel tropische Frucht, dazu Boskop, etwas Tabak, frischer Pfirsich. Am Gaumen fruchtig, speicheltreibend, zupackend, aber auch auf der etwas süßeren Seite. (Zu) jung.

Diefenhardt: polarisiert! Viel Tabak in der Nase, am Gaumen eher cremig, wird teils schroff abgelehnt, ich finde das einerseits opulent, andererseits hat das mächtig Säure. Genau bei solchen Weinen denke ich, da dieser Stil nicht mehr so präsent ist, haben wir nicht so viel Erfahrung damit, ihn jung zu verkosten. 

Saschas Favoriten
Juror Saschas Favoriten

Jakob Jung: Leicht vegetabil in der Nase, fällt am Gaumen bei mir durch, weil er mit eher wenig Spannung startet und dann nach hinten raus auf einmal den Säureturbo zündet. Alex Jung ist einer der absoluten Überzeugungstäter, bei dem ich schon richtig guten Charta getrunken habe. Deswegen sollte man den Wein nicht abschreiben. Außerdem gibt es deutlich positivere Meinungen unter den Juroren

Baron Knyphausen: etwas reifer in der Nase, etwas Pappe (nicht ‚nasse Pappe = Fehlton, sondern Kartonage, trocken, leicht staubig, nicht unangenehm), auch am Gaumen sehr trocken, würzig, phenolisch, geheimnisvoll, in der Frucht etwas belegt, aber ganz wunderbar.

Pauls Favoriten
Juror Pauls Favoriten

Spreitzer: In der Nase und im Antrunk klarer Apfel, inklusive etwas Kerngehäuse, und dieser Teil wird mir nach hinten raus zu austrocknend, dreht ins Bittere. Das sind allerdings klassische Geschmackseindrücke aus der Welt der Phenolik, die mit Reife oft harmonischer werden. Aktuell macht mir der Wein weniger Freude, ist aber alles andere als ein hoffnungsloser Fall.

August Eser: Der hat viel Biss, ist noch verschlossen, zeigt tolle Säure und schönes Spiel, wirkt aus einem Guss und hat deutlich Potenzial. Ganz wunderbar!

Christophs Favoriten
Juror Christophs Favoriten

Flick: Etwas schwefelige Nase, plus gelbfruchtig und Brotkruste, am Gaumen sehr weich (wir rätseln, ob der einen BSA gemacht hat). Sehr lecker (was man in dieser Liga hoffentlich mal so sagen darf).

Johannishof: Gelbfruchtige Nase. Am Gaumen knackig, karg mit viel Zug, derzeit eher geizig. Mir fehlt ein bisschen Substanz, um jetzt im Brustton der Überzeugung kund zu tun, dass der sich mit Reife entsprechend öffnen wird, aber ausschließen will ich das auf keinen Fall.

Wegeler: Hier ist die Situation für mich erheblich vertrauter: Die Nase ist verschlossen, aber klassisch. Am Gaumen Apfel, Kräuter, tolle Säure, im positiven Sinne schlank, viel Schub. Das hat alle Anlagen und wird ganz sicher wunderbar reifen.

Allendorf: Die Nase ist kräutrig, ätherisch, am Gaumen hat das viel Charme. Das Geschmacksbild erinnert ein bisschen an Flaschenreife: leicht wilde Kräuteraromatik, leicht ins mürbe drehende Apfelfrucht. Mag ich sehr, aber mag ich jetzt. Für mich muss das gar nicht weiter reifen.

Reife war danach das Stichwort. Die Raritäten entstammten einer suboptimalen Lagerung, weil nicht den Weingutskavernen, sondern dem Charta/VDP-Büro-Keller. Wir verkosteten offen.

Raritäten

Charta Kabinett 90er

August Eser Charta Kabinett 1993. eher verhaltene Nase mit etwas kandierter Aprikose, am Gaumen ein Ausbund von Harmonie, zum Verlieben. Reife, auch leicht mürbe Frucht, durchaus krasse Säure, die ihren Schrecken verloren hat, leicht rauchig-geheimnisvoll und ein Abgang zum Niederknien (wenn man die Säure aushält). Ich liebe den Wein – mein Magen aber nur ein Glas davon.

Hans Lang 1992 Charta Kabinett. Hat überlebt und spielt noch ganz ordentlich, kann im Kontext aber nicht wirklich punkten.

Jakob Jung 1991 Erbacher Hohenrain Charta-Wein. Die Nase ist wirklich alt, aber nicht muffig, sondern eine Mischung aus Würze, etwas Firne und einem Hauch Nagellack. Ist am Gaumen auch sehr sauer, aber eigentlich ganz okay.

Balthasar Ress 1990 Hattenheimer Kabinett Charta-Wein. Oh wow, meine Definition eines großartigen Weins der Kategorie ‚gereifter Riesling‘. Sehr würzig-reife Nase, Schuhcreme und Rauch, woher auch immer das kommt, dazu reife Trauben. Auch am Gaumen weinig, wieder Trauben, saftig, leicht ölig, kräutrig-würzig, aber überhaupt nicht ‚richtig alt‘. Tolle, durchaus heftige Säure, dann schmelzig und dadurch so lebendig. Groß – nicht im Sinne von ‚großartig für das Alter‘, sondern im Sinne von 95+ Punkten. Ich bin völlig geplättet (und mit der Begeisterung nicht alleine).

Aber machen wir uns nichts vor: Tempi passati. Die Säurewerte von damals erreichen wir nur noch in Jahrgängen, die man gemeinhin als klein bezeichnet. Die zunehmende Zuckerreife betrachten wir mittlerweile als Herausforderung. Blieb also die Frage, wie haben die Zwölf, die dem Charta-Wein die Stange halten, die Transformation in die Neuzeit bewerkstelligt. Wie reift Charta heute?

Gereifte Helden der Neuzeit

Gereifte Charta-Weine

Spreitzer 2016. Dem hat die Luft nicht gutgetan. Ursprünglich tolle Frische, schöne Balance, zeitlose Anmutung, aber denkste … Als ich mich später hinsetze, um nachzuprobieren und die Notizen zu vervollständigen, hatte der Wein das Zeitliche gesegnet.

Barth 2015. Ist nicht der trockenste, aber die ‚Vibrations‘ sind good. Die Frucht ist sehr üppig, überreife Nektarine, kräftige Säure, tolles Spiel, nach hinten raus leichte Phenolik. Enorm fröhlich und noch lange nicht am Ende.

Allendorf 2015. Das ist der Wein, den man jetzt trinken will. Lebendige Säure, der eine ein ganz bisschen plüschige Frucht gegenüber steht. Apfel, Aprikose, Dosenmandarine, blonder Tabak, dezent ölige Textur, noch nicht ganz halbtrockene Anmutung. Damit möchte man gurgeln, wenn man nicht zu denen gehört, die beim geringsten Zuckerschwänzchen in Ohnmacht fallen.

Wegeler 2014. Die Säure ist schon krass, darüber ölige Textur, saftige Frucht, schöne Süße. Für die Liga (und das sehr kühle Jahr) ist das sehr ordentlich und die Reife fügt die nötige Komplexität hinzu.

Hans Lang 2013. Schöne Nase mit reifer Aprikose, leicht wachsig, aber nicht alt. Am Gaumen einerseits sehr schmelzig. Bratapfel, andererseits krasse Säure, die vielleicht nicht jedermanns Sache ist, tolle Länge. Sicher polarisierend, aber noch voll da.

Flick 2012. Man ist das frisch, etwas Aschenbecher in der Nase, aber auch grüner Apfel, am Gaumen akzentuierte Säure, etwas Schmelz, Im Antrunk Gletscherwasserklarheit, nach hinten raus dann etwas Kreide. 12 Jahre? No Way! Das ist einfach toll, wenngleich nicht übermäßig komplex, aber wie der 90er Ress ein auch nach klassisch strengen Kriterien großartiges Erlebnis.

Was für schöne Weine (und Preise)

Die Juroren waren in der Blindprobe sehr schnell bei Riesling. Jahrgang 2022 und Rheingau fielen als Stichworte zwar nicht unisono, aber häufig. Jeder fand Lieblingsweine. Selbst die, die am Probenstichtag nicht so punkten konnten, kann man sich zur weiteren Beobachtung in den Keller legen, denn im Vergleich zu anderen reifefähigen Rieslingen sind sie spottbillig.

In der Reife zeigen die Weine dann, wie viel Potenzial in ihnen steckt. Diese Rieslinge haben damals 12,50 Euro gekostet und zehn Jahre im Keller an Komplexität zugelegt. Weine, die beweisen, dass Zucker nicht der Feind ist. Angesichts der lauter werdenden Stimmen, die den sehr trockenen Rieslingen der Neuzeit Probleme bei der Reifung unterstellen, sollten sich sehr viele Leute einmal ein paar Charta-Weine in den Keller legen und 2030 den Vergleich angehen.

Kloster Eberbach wird anlässlich des Jubiläums als 13. Betrieb wieder bei Charta einsteigen. Vielleicht steht Charta vor einem großen Comeback. Ich würde mich sehr darüber freuen – und nach diesem Tasting kein bisschen wundern.

Es fehlen zwei Juroren-Bilder. Ollie gehörte zu den Weil-Fans, ich hätte wohl August Eser und Wegeler in die Kamera gehalten, weil die den von den Kollegen gezeigten in nichts nachstehen.

2 Gedanken zu „Hidden Champions zum Spottpreis“

  1. Danke für den Artikel.
    Weiß jemand, ob es die Charta Weine als Jahrgangskollektion im 12er (oder 12+1) Karton zu erwerben gibt? Falls ja, wer bietet das an?
    Das wäre für mich natürlich deutlich einfacher als die Weine einzeln zu kaufen.

    Freundliche Grüße,
    Thomas

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