Es gibt einen einfachen Grund, warum dieses Blog viele Tage ohne standardisiertes Bewertungsschema auskommen musste: ich schreibe lieber über Wein als über mich. Andererseits ist es vermutlich ganz sinnvoll, einmal aufzuschreiben, was ich mir denke, wenn ich einem Wein eine Punktzahl gebe. Nun denn, so bringe ich es hinter mich.
Mit einem Punktesystem trifft der Weinfreund in gewisser Weise auch eine Aussage über die eigenen Verkostungsfähigkeiten. Wer 88-89 Punkte für Wein A und 90 für Wein B gibt, behauptet ja implizit, er könne solche Nuancen mittels Geruch und Geschmack differenzieren. Ich kann das nicht und trotzdem punkte ich im 100er System. Das 20er würde für meine Sensorik völlig ausreichen. Da mein Umfeld aber komplett parkerisiert ist, nehme ich auch das 100er-System.
Punktesystem für Wein – Pseudoneutralität
Zunächst einmal will ich das ganze mit Worten kalibrieren. Ich kann Weine in Kategorien einordnen und behaupte, dass ich die Mehrzahl von Weinen bei wiederholter Blindverkostung wieder in die gleiche Kategorie einordnen würde: Bis 74, 75-79, 80-84, 85-89, 90, 91-94, 95-99. Warum ich das glaube? Weil diese Kategorien gleichzusetzen sind mit Hürden, die der Wein überspringt: untrinkbar (also schon an Hürde eins gestolpert); trinkbar; mit Vergnügen trinkbar; so viel Vergnügen bereitend, dass ich mir den Wein in Erwartung genau dieses Vergnügens auch aus dem Keller holen würde; der Wein mit dem gewissen Kick; ein Vergnügen, über das ich unbedingt schreiben muss; ein wahrer Göttertrunk. War ein bisschen viel auf einmal? Okay, der Reihe nach:
Unter 70: Fehlerhaft. Nicht korkig, denn das wäre die Flasche und nicht der Wein generell. Eher eiweißtrüb oder muffig, UTA etc.
70 bis 74: Was verkehrsfähig ist oder nicht, beurteilt in Deutschland die Weinkontrolle. Ich maße mir nicht an, es besser zu können, aber in dieser Punktekategorie würde ich zumindest gerne mal fragen, wie es zu dem Urteil kam.
75 bis 79: Kann man trinken, muss man aber nicht. Bei 75 trinke ich vielleicht mein Glas aus, wenn man es mir in die Hand drückt (es gibt ein Eich-Maß für 75 Punkte: Aldi-Prosecco zum Anstoßen bei Menschen, die damit irgendwas feiern wollen.) Bei 79 ist’s dann schon ein Wein, bei dem ich auch das zweite gereichte Glas austrinke (ohne aber unbedingt eins haben zu wollen).
80 bis 84: Ab hier wird selbsttätig nachgeschenkt. Gute Weine, die man mit Vergnügen trinken kann. Wenn ich einen Wein aus dem Keller hole und er entpuppt sich als Mitglied dieser Kaste, werden mindestens zwei Viertele geschlotzt, am dritten Abend mag ich oft nicht mehr. Zuletzt passierte das hier.
85 bis 89: Sehr gute Weine, die im wahrsten Sinne des Wortes hervorragend sind. Ich versuche, meinen Weinkeller mit Weinen zu füllen, die mindestens diesen Standard haben. Die meisten Weine, über die ich mich in diesem Blog positiv äußere ohne eine Punktzahl zu nennen, spielen in dieser Liga.
90: Dies ist keine lineare Skala. 90 ist vermutlich etwas breiter als andere Punkte, eine eigene Kategorie: magische Weine halt.
91-94: Das sind Weine, die mit Anlauf die magische 90er-Schwelle überspringen. Weine, die schon nach zwei Sekunden am Gaumen das Signal senden: Klappe halten, zurücklehnen, jetzt rede ich. Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der bei diesen Weinen gerne sagt: Er spricht zu mir!
95-99: Große Weine. Das sind Weine, die erst mal perfekt sind, und im Laufe des Genusses taucht irgendwo ein winziges Defizit auf, was die 100 unmöglich zu machen scheint. Nach dem Innehalten muss ich sofort jemanden anrufen und von diesem Wein erzählen (wenn ich niemanden zum teilen habe). Passiert so selten, dass ich eine genaue Beschreibung nachreichen werde, wenn es mal wieder so weit ist.
100: Für 100 Punkte muss neben dem Wein auch die Stimmung stimmen. Mit anderen Worten, ich unterstelle mir selber, ein 100 Punkte Wein ist in meinem Universum nichts anderes als ein 99 Punkte Wein mit netteren Mittrinkern. Hatte ich bisher noch nicht, muss ich mir im Moment also auch nicht zu viele Gedanken drüber machen.
So sieht mein Bewertungssystem aus, bilde ich mir zumindest ein (und Einbildung und Weinbewertung sind vermutlich näher beieinander, als uns allen lieb ist).