Als echter Hobby-Weinfreund habe ich keinerlei besondere Beziehungen zu Profis. Ich treffe Händler und Winzer, wenn ich bei Ihnen einkaufe. Mir begegnen Sommeliers, wenn Sie mich im Restaurant beraten. Ich besuche auch schon mal ein kommentiertes Dinner oder eine moderierte Probe und Weinmessen kann ich nicht widerstehen. Der Rest meines Weinlebens ist privater Konsum mit Freunden oder der Familie.
Vor kurzem hatte ich meine bislang einzige private Begegnung mit einem Profi. Ich war zu einer Probe im Freundeskreis geladen, zu der auch ein Sommelier – ehedem sogar Sommelier des Jahres im Gault Millau – anwesend war. Ich lese immer wieder in Interviews mit Schauspielern, Komikern und anderen Unterhaltungskünstlern, dass sie sich in der Öffentlichkeit ständig mit dem Wunsch konfrontiert sehen: „Machen Sie doch mal was lustiges/außergewöhnliches etc.“ weil Otto Normalverbraucher sich kaum vorstellen kann, dass es bei Schweigers, Kalkofes & Co. privat ganz normal zugeht. Vielleicht sah unser mitverkostender Sommelier einen solchen Wunsch in unseren Augen, als er uns spontan eine besondere Verkostungstechnik lehrte.
Geschmackszonen der Zunge – vorne süß
Es ging dabei darum, dass die Zunge sich in vier Zonen einteilen lässt, in denen sich das Schmecken bestimmter Eigenschaften konzentriert. Nur auf der Zungenspitze schmecken wir süß, an den Rändern salzig und sauer sowie im hinteren Teil bitter. So lernte die Runde den Kopf nach vorne zu beugen, einen spitzen Mund zu machen und die Zunge in den dort zusammenlaufenden Wein zu tunken (!) und so die Süße ganz anders wahrzunehmen. Legt man den Kopf in den Nacken, schmeckt man die Bitterstoffe in einer neuen Dimension, ist doch die hintere Zungenregion für diesen Geschmackseindruck zuständig.
Ganz abgesehen davon, dass es albern aussieht, Wein auf diese Art zu verkosten, hatte ich noch ein anderes Problem: Für mich schmeckte das alles gleich. Ich verkroch mich im Glas und wurde ganz still, während die anderen Teilnehmer eine neue Stufe des Weinschmeckens erklommen.
Obwohl es eigentlich nur eine neue Stufe der Auto-Suggestion war, denn die Geschichte von den Geschmackszonen der Zunge ist totaler Blödsinn. Alles Quatsch! Sie schafft es sogar auf die sehr amüsante US-Wikipedia-Liste der populären Irrtümer (unter Health).
Im Jahr 1901 verfasste der Deutsche Forscher David P. Hänig ein Werk über den Geschmackssinn, in dem er feststellt, dass Geschmacksnerven nicht gleichmäßig auf der Zunge verteilt sind. Im mittleren Teil der Zunge haben wir keine Geschmacksknospen. Bei der Übersetzung dieses Werkes wurde 40 Jahre später vom Amerikanischen Stanford-Mann Edwin G. Boring falsch übertragen. Der Mythos war geboren und begann seinen Siegeszug. Drei Generationen Gymnasiasten mussten seitdem vor ihren Lehrern Erkenntnis heucheln oder sich selbst einreden, sie schmeckten süßes nur an der Zungenspitze. Erst 1974 wurde der Irrtum bemerkt und auch experimentell noch einmal nachgewiesen, dass es keine Geschmackszonen gibt. Ich füge noch ein paar Quellen an, für all diejenigen, die jetzt argumentieren, auch Wikipedia irre gelegentlich.
Das Märchen ist scheinbar nur schwer totzukriegen. Heute, 35 Jahre später, lebt es vor allem in der Weinszene munter weiter. Kaum ein Weinbuch, das den Geschmackszonen nicht mehrere Seiten widmet. Mich würde interessieren, ob das Modell auch heute noch von der Deutschen Wein- und Sommelierschule gelehrt wird. Kundige Leser sind dringend gebeten, einen Kommentar zu hinterlassen. Google findet aber auch Unterrichtsmaterialien zu den Geschmackszonen auf den Bildungsservern des Hessischen Kultusministeriums und bei anderen offiziellen Quellen.
Doch zurück zum Sommelier in unserer Privatrunde: Auch wenn er offenkundig einem Irrtum aufsaß und auch sich selbst suggerierte, er schmecke ‚in Zonen‘, habe ich keinen Zweifel, dass er zu Recht als Meister seines Fachs gilt. Ich würde jederzeit um seinen kundigen Rat bitten, wenn ich in seinem Restaurant speiste. Und vermutlich würde ich mir ein Herz fassen und ihm von den nicht vorhandenen Zungenzonen erzählen.
Ich könnte mir ja vorher mit dem von ihm empfohlenen Wein Mut antrinken.
Na, da bin ich ja beruhigt, habe ich doch gerade beim letzten verkosteten Wein die Säure besonders stark auch auf meiner Zungenspitze empfunden und fragte mich zu Beginn des Artikels schon, ob ich wohl „falsch gepolt“ bin:-).
In meinem – zugegebenermaßen bereits 5 Jahre alten – Handout / Weintutorium Basisseminar der Weinakademie Österreich ist dieser Irrtum gleich auf der ersten(!) Textseite nach dem Inhaltsverzeichnis zu finden!
Endlich mal jemand, der es auch erkannt hat! Der Blogbeitrag wird gleich mal getwittert…