Demokratische Weinkritik

Dass das Web (wahlweise spezieller das Web 2.0 oder genereller das Internet) dieses oder jenes ‚demokratischer‘ mache, ist eine oft gelesene Worthülse – meist gefolgt von einem Loblied auf irgendeinen neuen Dienst oder eine neue Website, die der Autor eben entdeckt

Die Startseite von Bottle Buzz
Derzeit noch recht unscheinbar: Bottle Buzz

aber vielleicht noch gar nicht verstanden hat. Oft dauert es eine gefühlte Millisekunde, bis sich eine Gegenstimme vernehmen lässt (per Pingback oder Kommentar), die kontert, der vereinfachte Zugang führe keineswegs zu einer Demokratisierung, sondern allenfalls zu einer Banalisierung. Klingt vertraut?

Das Spielchen spielen wir heute für die Weinkritik und weil es so viel Spaß bringt, übernehme ich gleich beide Positionen. Allerdings habe ich den folgenden Dienst schon vor einer ganzen Weile entdeckt und behaupte, ihn verstanden zu haben.

Es geht um Weinkritik a la Web 2.0: Bottle Buzz, eine Facebook Applikation von Digital Dandelion, einer kleinen Softwarefirma aus Los Angeles, die sich auf Social und Mobile Apps

Dynamische Echtzeit-Suche
Die Suche nach Riesling ergibt schon einige Treffer

spezialisiert hat. Bottle Buzz soll demnächst auch als Applikation für Android und iPhone erscheinen. Das Ziel ist einfach: Millionen Facebook-Nutzer bewerten Weine, die sie gerade trinken. Bottle Buzz unterstützt das Ganze mit einer grafischen Eingabemaske. Und aus dem Vergleich der Einschätzung identischer Weine kreiert das System Empfehlungen und Vorhersagen. Empfohlen werden Weine, die dem Geschmack des Nutzers entsprechen; vorhergesagt wird die Einschätzung eines bestimmten Weines basierend auf anderer Nutzer Einschätzungen in Verbindung mit den zu Protokoll gegebenen eigenen Vorlieben und Abneigungen. Das Amazon-Prinzip von Empfehlungen basierend auf gleichen Interessen führt Bottle Buzz also eine Stufe weiter, da das Programm auch abraten wird. Als Mobile- App kann das Helferlein dann direkt im Supermarkt zum Einsatz kommen.

Weinbewertung mit Schiebereglern
Bewerte vier Eigenschaften und den Gesamteindruck

Das Potential ist riesig, denn dadurch, dass Bottle Buzz ohne Sprache auskommt, kann sich niemand durch ‚falsche‘ oder mangelnde Weinsprache blamieren. Die Weineinschätzung verrät nicht, ob der Tester Ahnung hat. Das senkt die Eintrittsschwelle enorm. So könnten Tausende Kritiken zu den Standard-Weinen dieser Welt ins System gelangen, und das wäre schon ein sehr guter Anfang.

Bottle Buzz bildet zwar teilweise Durchschnittswerte (was prinzipiell tödlich ist, weil polarisierende Weine dann schnell mittelmäßig gewertet erscheinen obwohl sie genau das nicht sind) aber die Geschmacksprofile weist es einzeln als separate Linien in einer Abbildung aus, so dass nicht alles verloren ist.

Die Befreiung vom Ballast der schwülstigen Sprache und Rückführung auf einige wesentliche Parameter könnte die Weinkritik wirklich demokratisieren und eine breitere Öffentlichkeit

Die Bewertungen im Überblick
Die Bewertungen im Überblick: links die eigene und rechts die Drchschnittsnote des Weines

für das Thema begeistern. Zumal durch die Verknüpfung mit Social Media Profilen noch etliche weitere Anwendungsmöglichkeiten entstehen (Online-Weinclubs nach Regionen oder Vorlieben wären ein Beispiel). Facebook hat offensichtlich einige Hoffnungen und die Entwicklung mit einem Förderpreis von 25.000 US$ ausgezeichnet.

Oder ist das wieder alles zu banal? Wein in vier Parameter zu quetschen, die dann noch nicht mal eindeutig Qualitätskriterien oder neutrale Eigenschaften sind bringt niemandem etwas – für den einen ist ein schlanker Wein ein schlechter Wein, für den anderen ist ein fetter Wein ein schlechter Wein, für den dritten ist es schlicht ein schlanker oder fetter Wein. Bottle Buzz lässt außerdem vollkommen außer Acht, dass Weine sich entwickeln und eine 12 Monate alte Kritik eines Bordeaux mir heute wenig hilft. Das System funktioniert höchstens bei Massenware, die immer gleich schmeckt. Falsch geschriebene Weine gelten dem Programm als neue Weine. Prognosen zur Entwicklungsfähigkeit sieht die Software ebenso wenig vor wie Trinkfensterempfehlungen und und und…

Aber es ist schon ganz interessant, einmal eine VKN in dieses Schema zu pressen. Hier ein eher einfacher Champagner, den ich dieser Tage trinken durfte:

A. Charbaut et Fils, Cuvée de Reserve, ohne Jahrgang, Champagne. Diese ist die letzte von 5 Flaschen und sie lag knapp 2 Jahre in meinem Keller. In der Nase etwas Nuss, ansonsten die typische Hefenote. Am Gaumen zeigt der Wein etwas Reife, ganz viel Bratapfel, fast cremig und mittlere Perlage. Vor zwei Jahren war der Wein etwas frischer, aber die mürbe Note steht ihm jetzt gut. Langer, ‚warmer Abgang‘. Sehr ordentlich (für einen Getränkemarkt-Champagner sogar überraschend gut).

Bei Bottle Buzz wäre das dann:

A. Charbaut et Fils, Cuvée de Reserve, 0, Champagne. Dry, medium body, crisp acidity, moderate flavor intensity. I’d buy it.

Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte.

Der gute Vorsatz zum neuen Jahr

Glücklicherweise bewegt sich mein Körpergewicht in halbwegs normalen Dimensionen, Sport zu treiben kostet mich keine große Überwindung und Rauchen gehört nicht zu meinen Lastern. So kann ich mir zum neuen Jahr einen ganz banalen Vorsatz wählen.

Ich will in 2010 meinen Bestand an trockenen 2005er Rieslingen erheblich reduzieren.

Denn anders als ich das einmal erwartet hatte, scheinen diese Weine ziemlich schnell zu reifen. Teilweise haben einige trockene Grosse Gewächse des Jahres schon deutlichere Reifenoten als manches aus dem Jahr 2004, was ich in letzter Zeit trinken durfte. Dabei halte ich den Jahrgang immer noch für in weiten Teilen großartig – aber eben nicht so langlebig wie ursprünglich von mir einmal angenommen. Da ich fast alles, was ich noch habe in zweifacher Ausfertigung besitze, kann ich im Einzelfall immer noch entscheiden eine Flasche weiter reifen zu lassen. Ich werde über die Ergebnisse berichten und fange mit diesem hier an:

Kees-Kieren, Graacher Domprobst, Riesling Spätlese trocken ‚S‘, 2005, Mosel. In der Nase ist der Wein eher karg: etwas Pfirsich, viel Grapefruit, wenig Marzipan, angeschlagener Feuerstein. Am Gaumen voll, saftig, mürber Apfel, Grapefruit, gutes Spiel von Süße und Säure, geschmacklich nicht sehr trocken, eher die moderne Stilistik mit starker Ertragsbegrenzung, sehr später Lese und relativ hohem Restzucker. Die Mineralik geht eher ins rauchig-dunkle, der Abgang ist sehr lang. Ich finde den Wein trinkreif und werde auch die zweite Flasche dieses Jahr ihrer Bestimmung zuführen.

Ich wünsche allen Lesern ein glückliches neues Jahr.

Ersatzbank Superstar

Man liest immer wieder von Blindverkostungen in denen Weine der mittleren Preisregion weitaus teurere und vor allem berühmtere Weine aus dem Feld schlagen. Bekanntes Beispiel ist die ‚Berliner Verkostung‘ bei der chilenische Weine Latour, Petrus & Co in Reihe versägten. Aber auch in kleinerem Rahmen kommt sowas vor und wird dann intensivst werblich ausgeschlachtet. Ich spare mir die Diskussion darüber, dass die Ikonen in diesen Tests völlig vor der Zeit geköpft, die Underdogs hingegen im perfekten Reifezustand ins Rennen geschickt werden, denn hier geht es um einen anderen Aspekt.

Wenn so ein Underdog gewinnt, ist das für den privaten Konsumenten nicht immer Grund zur Freude.

Es begab sich dieser Tage nämlich folgendes: Wir hatten Gäste zum Essen und zum Hauptgang plante ich einen Castillo Ygay Gran Reserva Especial aus dem Jahr 1989 von Marques de Murrieta zu servieren – ein sogenannter ‚Kultwein‘, wenn auch für den schmaleren Geldbeutel. Die Zahl der Weintrinker und das Vorprogramm legten nahe, dass eine Flasche nicht ganz reichen, eine zweite aber wohl nicht leer werden würde. Mein Ygay war eine Einzelflasche und so suchte ich für die Ersatzbank einen anderen, günstigeren Wein. Dieser sollte eine spürbare Säure bei nicht zu viel Power und jugendlichem Feuer zeigen. Ganz alt sollte er aber nicht sein, damit der zu erwartende Rest am nächsten Tag noch Spaß macht. Ich entschied mich für einen von Blaufränkisch dominierten Österreicher aus dem Jahre 2004. Da er unterm Schrauber steckte und weil der erste Schluck es nahe legte, landete er in der Karaffe.

Die Gäste kamen, der Abend war nett und das Essen lecker. Das Vorprogramm mit unter anderem Wittmanns Morstein aus 2008 befriedigte alle Erwartungen. Beim Ygay hielt ich mich etwas zurück und lies den Gästen den Löwenanteil. Anhand des einen getrunkenen Glases muss ich konstatieren, dass es sich – wie schon beim vor Jahren getrunkenen 1978er – um einen sehr ordentlichen aber eigentlich kreuzbraven Rioja handelt. Irgendwo bei 87 Punkten könnte er verortet sein, aber das ist ganz schön enttäuschend bei dem ganzen Buhei um seine mindestens 50 Monate Fasslager, x-fache Selektion und all dem anderen Tüdelüd.

Mein Glas war als erstes leer. Ich holte die Karaffe von der Ersatzbank. Es kamen scherzhafte Bemerkungen, ob ich die ordentlichen Weine für mich beiseite geschafft hätte und ich stieg ebenso scherzhaft darauf ein. Was dann aus der Karaffe ins Glas strömte spielte allerdings eine ganze Liga über dem großen Spanier. Mir war es zwar recht aber auch ein bisschen peinlich. Ich wurde gebeten, das Glas mal rumzureichen und auf einmal landeten die Ygay-Reste meiner Gäste in einem nicht mehr gebrauchten leeren Glas. Alle wollten den Ösi trinken. Beim Aufdecken des Weines konnte niemand was mit dem Winzer anfangen (keine Web-2.0-Menschen unter den Gästen), der Preis von 18€ versus 33€ ließ allerdings ein zweites Mal aufhorchen. Zum Glück waren auch weniger weinbegeisterte mit am Tisch, so dass nach kurzem Ordnungsruf der Hausherrin das Thema gewechselt wurde.

Wie erwartet blieben ungefähr ein viertel Liter übrig und überdauerte ohne Schaden im Kühlschrank, so dass ich am nächsten Abend den Rest trinken und eine Verkostungsnotiz anfertigen konnte.

Grenzhof Fiedler, Mörbisch Rot, Rotweincuvée, 2004, Burgenland, Österreich. 87% Blaufränkisch und 13% Cabernet Sauvignon. In der leicht alkoholischen Nase Pflaume und blonder Tabak. Am Gaumen ist der Wein dunkel und kräftig: schwarze Johannisbeere, Kaffee und Bitterschokolade. Dabei ist er aber nicht mollig, breit und warm sondern begeistert vor allem mit Textur (straffe Säure), Struktur (harmonisches Tannin), gut integriertem Alkohol und diesem kühlen, an Menthol erinnernden sehr langen Abgang. Große Klasse.

Geschenkte Gäule

Weihnachten ist bei uns kein Fest der großen Weine. Zwar begehe ich Heiligabend nicht als alkoholfreies Fest – schließlich hat Jesus Wasser in Wein verwandelt und nicht umgekehrt – aber es ist eben eher Stall und Krippe als Nobelherberge. So gab es auch dieses Jahr zu Kartoffelsalat und Würstchen nur einfache Weine. Geschenkte Gäule weiterlesen

Stinkender Schatz

Die folgende Geschichte ist schon an verschiedenen Stellen im Internet erzählt worden.  Man mag mir meinen Mangel an Originalität verzeihen: gute Geschichten dürfen meiner Meinung nach auch mehrfach erzählt werden.

Als 1993 der Junior des Weinguts Thanisch (heute Ludwig Thanisch & Sohn) von der Ausbildung in das väterliche Gut heimkehrte, war er voller Tatendrang und wollte das eben gelernte auch im eigenen Betrieb anwenden. Spontanvergärung war gerade wieder im Kommen und eine Auslese aus dem Jahrgang 1993 sollte mit dieser Methode, Vergärung mit Keller- und Lesegut-eigenen Hefen anstatt mit Zuchthefe, hergestellt werden. Das Vorhaben ging gründlich schief, der Wein entwickelte einen heftigen Schwefelwasserstoffton in der Nase, was bei Spontangärung ja schon mal vorkommt. Da die Kunden des Gutes (damals) so einen Wein als fehlerhaft eingestuft hätten, wanderte die komplette Charge ins Lager (auch bei diesem Winzer ‚Schatzkammer‘ genannt) und wurde dort eingemottet. 15 Jahre später, der Junior ist längst am Ruder, die Produktion ist beim Riesling vollständig auf Spontangärung umgestellt, wurde der Wein wieder hervorgeholt. Der Spontistinker war verflogen (er wäre heute vielleicht auch kein Hinderungsgrund für den Verkauf mehr) und zum Vorschein kam ein sehr zum Vorteil gereifter Wein. Den gab es eine Weile zum Schnäppchenpreis, bis er über Nacht teurer wurde, was vielleicht auch mit einigen euphorischen Stimmen im Internet zusammenhing.

Thanisch (Ludwig Thanisch & Sohn), Brauneberger Juffer, Riesling Auslese, 1993, Mosel. In der Nase verhalten Petrol und noch ein paar Sponti-Stinker-Noten, dazu Aprikose und Marzipan; für Alter und Vorgeschichte vergleichsweise frisch. Am Gaumen ist der Wein absolut wunderbar: sehr saftig und fruchtig mit Aprikose, würzig mit einem Hauch Pistazie. Dank der langen Reife bietet der (Achtung: Unwort!) ‚unheimlich leckere‘ Wein ein halbtrockenes Geschmacksbild. Sehr langer, warmer, mineralischer Abgang.

Allen Lesern wünsche ich schöne Weihnachtsfeiertage.