Ich besitze ein paar Flaschen Wein. Je nach Perspektive könnte man sagen, ich besitze viel zu viel Wein. Das sollte Motivation sein, die Bestände durch rasches trinken zu reduzieren. Bei etlichen Weinen ist das auch kein Problem. Leider tragen aber viele meiner Weine eine Geschichte mit sich herum – eine, die ich unbedingt mit einem oder mehreren Freunden teilen muss. Da stehe ich dann regelmäßig vor der Flasche und denke: ‚Nein, den trinke ich heute nicht, den öffne ich irgendwann mal, wenn Alfred, Bodo und Cäsar zu Besuch sind, die werden sich wundern‘, oder ‚Nein, Xaver, Yogi und Zacharias wären traurig, wenn ich den ohne sie trinke‘.
Leider kommen die alle nur gelegentlich zum Weintrinken vorbei – und bringen dann mindestens jeder eine Flasche mit, die sie schon längst unbedingt mit mir trinken wollten, weil sie das gleiche Problem haben. Während ich dank diszipliniertem Einkaufsverhalten mittlerweile den Gesamtbestand meines Kellers reduziere, nimmt diese Art Wein eher zu. Wenn mich dereinst der Sensenmann holen kommt, werden meine letzten Worte wohl nicht ‚Mehr Licht!‘ oder ‚Es ist vollbracht!‘ sein, sondern eher ‚… aber ich wollte doch noch die A.d.L.-Vertikale mit Marc trinken, und den Cask 23 mit Sascha, den Becker mit Paul, die Juffer TBA mit Frank, den Montrose mit Ollie …‘. Mein Tod könnte etwas länger dauern.
Zapfen raus und los
Der Grund, warum ich diese Weine nicht alleine trinke, ist oft weniger ihr monetärer Wert, als vielmehr, dass sie eine schon immer offene Frage beantworten sollen. Fragen, die ich mit eben jenen Freunden diskutiert habe, weswegen ich auch mit jenen gemeinsam probieren muss. Die Wahrheit liegt im Glas, nicht in dem, was ich hinterher darüber erzähle. Also habe ich beschlossen, künftig häufiger einen Rundruf durch den vinophilen Freundeskreis zu starten und sobald mehr als zwei Zeit und Lust haben, geht es an die besonderen Flaschen. Welche das sind, mache ich dann jeweils davon abhängig, wer gerade kommt. Bei der ersten Auflage dieser Veranstaltung rief ich zusätzlich noch meinen Facebook-Bekanntenkreis auf, was zu einer netten spontanen Runde führte. Und weil Wahrheit-im-Glas-Freitag komisch klingt und die Engländer den schönen Spruch ‚The proof is in the pudding‘ haben, nenne ich es Proof Pudding Friday. (Und ja, das ursprüngliche Zitat heißt ‚The proof of the pudding is in the eating‘ – passt doch noch viel besser.)
Da Ollie unter den Gästen weilte, wurde es Rheingau-lastig. Denn Ollie, in diesem Blog schon mehrfach besungener frankophiler Blindprobenfeigling, ist mit dortigen Rieslingen bestens vertraut. Den Auftakt machten zwei Weine, von denen nur einer aus dem Rheingau stammt, die bis auf die Herkunft jedoch fast alles gemeinsam haben. 10 Jahre hatte ich sie in der hintersten Ecke meines Kellers versteckt und erst neulich im Rahmen eines Kellerumzugs wiederentdeckt. Ich hatte sie tatsächlich schon vergessen. Nicht jedoch ihre Geschichte, die es zu erzählen gilt.
Vom Blühen und Gären
Mein erster Besuch im Weingut Ludwig Thanisch und Sohn datiert auf den 8. Juni 2006, mir nur deswegen so genau in Erinnerung, weil es der Tag vor dem Beginn der Fussball-WM war. Ich erhielt eine Kellerführung, in der es nicht besonders viel zu sehen gab: ein Keller im Juni halt. ‚Eigentlich ist alles gefüllt‘, erklärte Winzer Jörg Thanisch, ‚bis auf diesen Riesling hier‘. Er deutete auf einen Stahltank und erklärte ‚der ist leider in der Gärung stecken geblieben und nicht wieder gekommen. Jetzt werde ich den wohl feinherb füllen müssen.‘ Und wo wir gerade hier seien könne er eigentlich gleich die Tankheizung abschalten, erklärte er mir, während er hinter dem Tank verschwand. Das anschließende laute Klack des Heizungsschalters löste jedoch auch ein tiefes Glucksen im Tank aus: es stieg eine Gasblase auf, denn der Wein hatte wieder angefangen zu gären. Thanisch machte ein ungläubiges Gesicht und sagte mehr zu sich selbst: ‚Der Vatter (moselanisch für Vater, Anm. d. V.) hat’s doch gesagt, wenn draußen die Reben das Blühen anfangen, startet im Keller auch die Gärung wieder. Man sollte mehr auf die Alten hören.‘
Es dauerte nur wenige Wochen, dann wurde der mittlerweile trockene Wein gefüllt, allerdings hatte sich zwischenzeitlich herausgestellt, dass der Riesling während seines langen Hefelagers auch noch einen biologischen Säureabbau durchlaufen hatte. Das Ergebnis war, 2005 war eh ein warmes Jahr, eine 5 vor dem Komma bei der Säure und ein extrem cremiges Mundgefühl. Das schmeckte nicht schlecht, aber kein bisschen nach Riesling. Trotzdem orderte ich eine Kiste zu 7 Euro die Flasche, alleine des Erlebten wegen.
Kurze Zeit später erhielt ich Post aus dem Weingut Peter Jakob Kühn, mit der das Gut die Nachricht verbreitete, dieses Jahr sei eine Partie des Rieslings ‚Landgeflecht‘ in der Gärung stecken geblieben, habe dann jedoch im Juni wieder angefangen und noch durchgegoren, während des langen Hefelagers allerdings einen BSA durchlaufen und sei so außergewöhnlich (und außergewöhnlich gut), dass der Tank separat gefüllt und als Riesling ‚R‘ zu beziehen sei – zu 18 Euro die Flasche. Auch der musste in meinen Keller.
BSA im Riesling – ehemals Standard
Zu jener Zeit lernte ich viel über Wein durch den regen Austausch mit dem Hamburger Weinkritiker Mario Scheuermann. Der erklärte, das ewig lange Gärung, Lager auf der Vollhefe und ein biologischer Säureabbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Standard in der Riesling-Entstehung gewesen sei. Es sei reine Mode und Technikbegeisterung, dass diese Art des Weinbereitens derzeit kaum vorkäme. Wie Recht er damit hatte, sieht man heute, wo BSA im Riesling wieder Stilmittel ist und Legionen von Winzern mit langem Hefelager experimentieren. Er gab mir die Anweisung, diese Weine mindestens zehn, besser noch zwanzig Jahre wegzulegen. Also packte ich je drei Flaschen in einen Karton und versteckte sie vor mir selbst.
Da war es also, das Puddingtesthema: wie schmecken die Weine nach 10 Jahren? Ich öffnete und dekantierte beide. Dabei fiel mir auf, dass der Kühn extrem dunkelgolden und der Thanisch vergleichsweise hell war (an Luft aber schnell nachdunkelte). Der Kühn erinnerte bei der Schnellprobe an einen Wachauer Smaragd aus warmem Jahr, ziemlich fett und eher pummelig. Der Thanisch schwebte im Glas, war um Längen besser, weil vibrierend, frisch, aber auch cremig, burgundisch und dabei sehr lecker. Aber das war nur ein einziger Probeschluck. Drei Stunden später kamen die Weine blind ins Glas.
Peter Jakob Kühn, Riesling ‚R‘, 2005, Rheingau. 3 Stunden Luft wirkten Wunder. In der Nase sehr würzig, auch leicht röstig, dazu etwas Honig und viel sehr reife Aprikose. Am Gaumen erst cremig, mit Mandarine und Trockenfrüchten, sehr konzentriert, dann etwas brandig, aber von beeindruckender Komplexität. Ich hatte neulich die Gelegenheit mit der Vinea Wachau einige 20 und mehr Jahre alte Smaragde zu trinken, die zeigten, wie Botrytis im trockenen Wein mit fortgeschrittener Reife den Aroma-Turbo zünden kann. Der Kühn wirkt so, als stünde er am Anfang dieses Prozesses, macht schon ein bisschen Spaß, vor allem aber Hoffnung auf mehr in weiteren fünf bis zehn Jahren.
Thanisch (Ludwig & Sohn), Lieser Niederberg Helden, Riesling Spätlese trocken, 2005, Mosel. Die Nase nach drei Stunden an der Luft eine einzige Katastrophe: ‚Fruchtbuttermilch Zitrone‘, Milram lässt grüßen. Am Gaumen legt der Wein jede Menge falsche Fährten, niemand tippt zunächst auf Riesling. Er wirkt burgundisch-cremig, hat dann aber diesen festen Kern, der nicht zum Erfahrungsschatz passt, ist leicht, schlank, tänzelnd, erinnert an Mandarine und Pistazie, ist dann mineralisch/phenolisch und zeigt ganz hinten im extrem langen Abgang ein paar Gerbstoffe, die die fehlende Säure kompensieren und den Wein vibrieren lassen. Großes Kino, Welten besser als im Jungweinstadium. Nach weiteren zwei Stunden ist die Nase kuriert (der Vorteil an Proben zu viert ist, dass genügend über bleibt). Zum tollen Geschmack gesellt sich ein Duft nach Mandarine und Aprikose, der auch deutlich auf die Riesling-Fährte führt. Der einzige Wein des Abends, der ausgetrunken wird.
Es stimmt, auch Weine aus den mittleren Qualitäten, die diesen Produktionsprozess durchlaufen, profitieren von jahrzehnt(e)langem Flaschenlager. Weitere Erkenntnisse vom Proof Pudding Friday demnächst an dieser Stelle.
Hm, ich frage, ob der Kommentar hier paßt, wahrscheinlich werden Sie schon so dauernd mit Fragen bombardiert – nur habe ich mit gereiften Weinen und deren Dekantierung wenig Erfahrung und wollte neugierig einmal nachfragen, wie man eine gewünschte Trinktemperatur von 15 Grad mit 3-5 Stunden Dekantieren unter einen Hut bringen kann?! War der Wein am Ende deutlich wärmer oder war die Raumtemperatur so gering?
mit herzlichem Gruß,
Oskar Münchgesang
Hallo Herr Münchgesang, die Weine werden in diesem Fall einfach doppelt dekantiert, das heißt mittels Trichter in eine leere Flasche umgefllt und anschließend wieder in ihre Originalflasche zurück. Der dabei im Wein gelöste Sauerstoff reicht vollkommen aus, um sein Wer zu vollbringen, weitere Belüftung ist nicht nötig. Die Flaschen gehen dann ganz normal wieder in den Kühlschrank.
Beste Grüße
Felix Bodmann
Ah, super! Werde ich bei nächster Gelegenheit testen. Vielen Dank!
Gern geschen, und mehr natürlich hier: http://www.webweinschule.de/trinktemperatur-belueftung/
Sehr schöner Bericht, Felix. Vielen Dank!
Zur Konfirmation unseres Ältesten gab es am Abend eine trockene Thanisch-Vertikale von AR 2014 bis Scharz 2007, die sehr schön zeigte, wie gut diese Weine altern können. 10 (ich liebe diesen A…jahrgang!), 08 und 07 waren meine Favoriten.