Wie hat er sich denn nun entwickelt, der anfangs besungene und dann verschriene Jahrgang? Ich habe mir ein paar Leute eingeladen und nachgeschmeckt.
Die Weinwelt durchläuft aktuell einen Lernprozess. Es geht um die Entwicklung der Weine aus den ersten Jahrgängen mit deutlichem Einfluss der Erderwärmung. 2003 war das erste Hitzejahr hierzulande, 2005 eines mit extrem warmen Herbst und 2007 vielleicht das letzte einfach nur ‚warme‘ Jahr. Besonders bedeutend finde ich 2009, denn es zeigt einen Witterungsverlauf, der sich seither regelmäßig wiederholt hat: durch die ganze Vegetationsperiode deutlich wärmer als die 90er, doch knapp vor dem Hitze- oder Dürrenotstand. Die Weine waren bei Erscheinen recht frisch, wurden dann ziemlich schnell adipös. Das hat sich 2011, 2012, 2015, 2019, 2020 so ähnlich wiederholt – mit 2011 als Ausreißer nach oben und den anderen Jahren vielleicht ein bisschen schlanker. 2014, 2016 oder 2017 assoziiere ich zunächst mit langlebigerer Frische, doch gibt es in diesen Jahrgängen auch einzelne Anbaugebiet mit ziemlich üppigem Wein.
Wie reifen die warmen Jahrgänge?
Die Frage ist: Wie reift das? Es gibt Kollegen, die behaupten, die Weine würden sich mit Reife wieder zusammenziehen. Manche fügen alte Jahrgänge oder frühere Erlebnisse als Referenz an. Immer wieder finde ich Verkostungsnotizen, die das klar bestätigen. Allerdings kommt mir dabei gelegentlich der Verdacht einer selbsterfüllenden Prophezeiung, konnte ich bei eigener Erfahrung mit den Weinen dieses Verschlanken doch nicht einmal ansatzweise nachempfinden.
Natürlich wird jeder fette Wein irgendwann wieder schlank, schließlich sind altersschwache Weine in der Anmutung gezehrt und das ist auch eine Form von Schlankheit. Wer von Übergewicht auf Magerstufe runterhungert, hat zwischendurch Idealgewicht, sieht dabei aber nicht zwangsweise wie das blühende Leben aus, erst recht nicht, wenn die Veränderung Teil eines Verfallsprozesses ist. Aber grau ist alle Theorie. Wir verkosteten 14 Weine blind in Zweierflights, lediglich der erste wurde, wie bei mir üblich, als Mosel angekündigt.
Riesling 2009, Große Gewächse (außer Flight 1)
Markus Molitor Niedermenninger Herrenberg Auslese ** Weiße Kapsel (= ungefähr trocken). Ist ein molliger Wein, der in der Runde als ‚vergnüglich‘ bezeichnet wird. Das passt ganz gut. Dosenananas, etwas Karamell, ein dezentes Bitterl sorgt für positive Unruhe, kann aber den Mangel an Säurespannung nicht ganz kompensieren. Insgesamt elfter Platz, bei mir geteilter Letzter, aber vergnüglich trinkbar.
Heymann-Löwenstein, Uhlen R. Vibriert, hat eine kräftige, aber reife und deswegen schöne Säure. Hat ziemlich sicher auch etwas Botrytis, ist ölig und deutlich restsüß, ganz schön kräftig. Hat mit GG nix zu tun, ist für mich aber – auf ganz andere Weise – ebenfalls vergnüglich zu trinken. Mein geteilter letzter, insgesamt vorletzter Platz.
Ökonomierat Rebholz, Im Sonnenschein. Zunächst etwas Firne in der Nase, sehr trocken, steinig, mit etwas Luft kommt exotische Frucht und ansprechende Frische. Für mich entwickelt das Zug, bleibt aber auch etwas wachsig. Insgesamt finde ich das im letzten Schluck sehr stark, bin aber ganz allein auf weiter Flur. Mein sechster Platz, da niemand anderes ihn besser als Platz zehn hat, gibt es am Ende die rote Laterne.
Ökonomierat Rebholz, Kastanienbusch. Hier ist die Frucht etwas dunkler, molliger, Wachsbohnen in der Nase, sehr kräftige Säure, geschmacklich auch sehr trocken, minimal austrocknend, was mich deutlich weniger glücklich macht. Dieser kleine Makel im Abgang verhindert Trinkfluss, wenngleich wir immer noch von einem guten Wein sprechen. Mein geteilter zehnter, insgesamt der elfte Platz.
Emrich-Schönleber, Halenberg. Recht typische Rieslingnase, reif, aber nicht überreif, kandierter Apfel, Mandarine, dezent rauchig, ziemlich typisch, aber durchaus üppig, dabei ansprechende Frische und Struktur. Dieser rauchig-mineralische Abgang, der die Weine dieser Lage so oft prägt, ist auch in diesem Jahrgang wahnsinnig sexy. Fast groß und mein geteilter vierter Platz, insgesamt Fünfter.
Schäfer-Fröhlich, Halenberg. Ein Korken wie eine Brandmauer, der Wein hat noch Kohlensäure! Nicht nur deswegen ist er zarter als sein Pendant im anderen Glas. Er hat auch die feinere Frucht, ist aber etwas süßer und wird nach hinten raus ein bisschen moppelig, da kommt er dann nicht mehr mit. Trotzdem schön und mein siebter Platz, gesamt Sechster.
Robert Weil, Gräfenberg. Dunkelwürzig, reife Aprikose, das ist ziemlich archetypisch Riesling, aber sehr voll und ganz schön kandiert. Die Säure ist sehr reif. Finde ich ganz nett, aber etwas zu üppig. Mein geteilter zehnter Platz, der neunte springt insgesamt heraus.
Von Oetinger, Hohenrain. Kräutrig, krautig, gelbfruchtig, wird dann blumig und ganz chic. Am Gaumen anders, die Säure ist okay, etwas spitz, das Aromensprektrum hell, aber ein bisschen Kraut bleibt, der ‚Störer‘ in diesem Feld kommt teilweise gut an, ich finde ihn okay. Ich bin und bleibe Team Siegelsberg – geteilter Zehnter bei mir, alleiniger Zehnter insgesamt.
Gut Hermannsberg, Hermannsberg. Funky Nase, am Gaumen etwas süßlich, vibrierende Säure, schöne Würze, nur etwas kandiert, Apfel und Aprikose, ziemlich klassisch, nicht sehr schlank, dezent ölig. Ist auch wunderbar, aber gegen den Konkurrent im anderen Glas chancenlos. Ich glaube, dass mein achter Platz auch in anderer Konstellation bestand gehabt hätte, insgesamt reicht es zum siebten.
Schäfer-Fröhlich, Felsenberg. Wegen einer korkenden Hermannshöhle von der Ersatzbank ins Spiel gekommen und was für ein Joker: Tolle Säure, tolles Süße-Säure-Spiel, leicht rauchig, nach hinten raus Tabakwürze, schiebt frisch nach und wird nicht müde. Das ist wirklich groß. Mein geteilter zweiter Platz, insgesamt vierter.
Klaus-Peter Keller, Morstein. Startet hell und vielversprechend, wird dann in der Frucht dropsig und mit etwas Luft wird er wieder frischer. Das hat nach einer Weile auch eine leicht kalkige Ader, die der im Nebenglas aber nicht das Wasser reichen kann. Die Frische und Lebendigkeit sorgen für den Trinkspaß. Dazu kommt das intellektuelle Vergnügen, einen hochkomplexen gereiften Wein erfahren zu dürfen. Und diese Kombination macht ganz große Weinerlebnisse aus. Die innere Spannung ist grandios. Mein geteilter zweiter, auch insgesamt zweiter Platz und für zwei Juroren der beste Wein des Abends.
Wittmann, Morstein. Was den Wein für mich aus dem Feld heraushebt: Wir haben eine richtig feine, aber durchsetzungsfähige, kreidige Phenolik, die sich durch die Reife, die Opulenz und leicht ölige Konsistenz durch fräst und ein ganz eigenes Niveau an Riesling-Gefühl erreicht. Der Wein ist etwas schlanker als die meisten, leicht kräuterwürzig und hat enorm viel zu erzählen. Ganz großer Sport! Mein erster Platz, insgesamt Erster, weil für vier der neun Juroren bester Wein des Abends.
Emrich-Schönleber, Frühlingsplätzchen. Da ist das helle Strahlen, nach dem wir die ganze Zeit gesucht haben: keine Dosenfrucht, sondern klare gelbe Frucht. Singt, hat eine schöne Süße zur ordentlichen Säure. ‚Hugs for free!‘ fasst ein Juror das sehr passend zusammen. Alle sind ganz fröhlich. Das ergibt bei mir Platz vier und insgesamt Platz drei.
Schäfer-Fröhlich, Felseneck. Das ist auch recht frisch, immer noch reduktiv, wirkt jugendlich, aber die Komplexität ist begrenzt. Wirklich schön, aber lange nicht so tänzelnd, wie das Frühlingsplätzchen. Achter Platz – für mich und insgesamt.
Schlank? Och nö…
Fazit: Kein Wein war schlecht. Anders als beim 2011er fanden sich keine Bittertöne und auch das Thema Karamell spielte eine untergeordnete Rolle. Alles gut. Meine Top-5 waren auch die Top-5 der Jury, was mir die seltene Gelegenheit gibt, meine Meinung für allgemeingültig zu halten. Jenseits dieser Top-5 hatten wir eine Auswahl an guten bis sehr guten Weinen im Glas aus einem insgesamt nur ordentlichen Jahrgang. Gemessen an den damaligen Preisen attestiere ich diesen GGs ein gutes Preis-Genussverhältnis. Wer zur Einschätzung unbedingt Punkte benötigt: müsste ich welche vergeben, das Spektrum reichte bei mir von 88 bis 97 für dieses Feld.
Die 2019 getroffene Entscheidung, die Jahrgangsprobe abzusagen und um fünf Jahre zu verschieben, hat sich insofern gelohnt, als dass sie mich der Antwort auf die Frage näherbrachte, ob sich die Weine mit weiterer Reife wieder verschlanken würden. Mein Eindruck ist, dass sie es nicht tun. Sie sind jetzt allerdings weniger druckvoll als vor fünf Jahren, dadurch weniger mächtig und weniger anstrengend – eigentlich fand ich keinen der Weine anstrengend. Schlank war da gar nichts. Das mag wie Haarspalterei klingen. Ich halte es für relevant, denn Menschen, die leise Eleganz im gereiften Riesling suchen, werden unsere Begeisterung für die Siegerweine eventuell nicht teilen.
Gemischter Beifang
Ein Wort noch zum Begleitprogramm. Zum Start probierten wir blind die beiden neuen Sekte von Schloss Vaux. Die halte ich für einen guten Wurf, auch da jeder sofort eine Meinung zu den Weinen hatte und mindestens einen sehr mochte. Die Sympathien waren gleichmäßig auf Rosé und Riesling verteilt.
Zum Essen hatten wir 2009er Rotweine. Eine freundliche Hörergabe war der Nebbiolo aus Australien, der sehr gefiel. Das Weingut existiert nicht mehr. Die Parzelle Schönberg von den Schneiders und Kuhns Steinbuckel machten uns so wenig an, dass ich zur Ehrenrettung des deutschen Spätburgunders schnell 16er Pfarrwingert von Meyer-Näkel öffnete. Die Ehre war danach wieder hergestellt – ohne Wenn und Aber! Eine große Überraschung war der Rausschmeißer: Die Jahrgangscuvée ‚Grands Vintages Extra brut‘ von R.H. Coutier (Ambonnay Grand Cru) war ein erstaunlich guter Champagner für den schmalen Taler (um 35 Euro), den er gekostet hat.