Wann darf man sich öffentlich wertend über Wein äußern? Das ist eine viel diskutierte Frage. Die einfache Antwort lautet: am besten nie. Zumindest nicht, wenn man kontroverse/polarisierende/superlativische Äußerungen von sich gibt und vergisst zu erwähnen, dass das natürlich nur die eigene Meinung … in aller Demut … mit gegebener Irrtumswahrscheinlichkeit … auf Basis des persönlichen Erfahrungs- und Kenntnisstandes – na, Sie wissen schon. ‚Selbsternannte Experten‘ oder ‚Schreiberling‘, googeln Sie das mal mit dem Zusatz ‚Wein‘. 200.000 Treffer. Dabei sollte klar sein: so, wie jeder das trinken soll, was ihm schmeckt, sollte auch jeder das über Wein schreiben, was er denkt, findet oder glaubt. Und viel wichtiger: wenn einer in Geschmacksfragen schreibt, dann ist das Beschriebene meist sein Geschmack oder ‚nur seine Meinung‘, selbst wenn er es nicht jedes Mal dazu schreibt.
Der Vorteil an einem Blog ist: mittlerweile haben 95% der Blogleser verstanden, dass das so ist. Ich muss hier nicht mehr relativieren. Den Autor beschimpfen meist nur Gelegenheitsleser im September, die beleidigt sind, dass ihr Lieblingswinzer oder -anbaugebiet in seiner GG-Berichterstattung nicht ausreichend bejubelt wurden. Der Nachteil an einem Blog ist, dass hier auch sechs Jahre alte Aussagen zu finden sind, die ich mit heutigem Wissensstand und Erfahrungshorizont so nicht mehr postulieren würde. Aber Löschen gilt nicht. Also lieber Flucht nach vorne: Ja, ich schreibe ein Weinblog und sitze dabei die ganze Zeit Irrtümern auf! Einen besonders krassen habe ich leider erst letzten Herbst bemerkt. Das werfe ich Ihnen hiermit einfach mal so über den Zaun.
Die deutsche Röstung
‚Wenn Rotwein extreme Aromen von Espresso und/oder Latte Macchiato in der Nase und/oder am Gaumen zeigt, dann ist das das Ergebnis unzulänglichen Holzmanagements, speziell eines zu starken Toastings für einen zu dünnen Wein – mithin vor allem ein typisch deutsches Spätburgunderproblem’. Diesen Satz habe ich zwar nie geschrieben, nicht mal gesprochen, aber ich habe ihn geglaubt. Ich könnte jetzt darüber schreiben, dass er von Ollie stammt, meinem geschätzten Spätburgunder-Pinot-Schizo, der in diesem Blog eine ähnlich tragende Rolle spielt wie Peter, aber das wäre nur ein Ablenkungsmanöver (wenngleich die Wahrheit), denn Tatsache ist: Mein Blog, meine Verantwortung.
Die Erkenntnis, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Holzweg war verdanke ich einer Verkostung im letzten Herbst. Bei der gab es die Weine von Stag’s Leap zu probieren, aus den Jahrgängen 2008, 2010 und 2012, dazu noch einen Merlot-dominierten Wein aus dem Schwesterweingut Columbia Crest. Viel könnte man schreiben über Stag’s Leap und das ‚Judgement of Paris‘. Dieses Ereignis (das Sie vermutlich kennen, sonst lesen Sie einfach bei Wikipedia oder schauen Sie die Verfilmung) befeuerte Qualitätsbemühungen in der gesamten neuen Welt und veränderte den Weinmarkt nachhaltig. Ohne Stag’s Leap hätte Mouton-Rothschild gewonnen, man darf dem Weingut also wohl eine tragende Rolle in der Weinwelt attestieren.
Trotzdem schreibt kaum jemand über die Weine, was daran liegen mag, dass sie zwischen 50 und 200 Euro kosten. Wer sich online solchen Ikonen widmet, steht leider unter Generalverdacht der Gefälligkeitsberichterstattung, ist die Basis der Geschichte doch meist eine kostenlose Musterflasche (selbsternannt … Schreiberling …Sie wissen schon). Dass ich es trotzdem mache, liegt an der Lektion, die ich an jenem Abend lernte: Die 2012er Cabernets aus Kalifornien, wahrlich keine dünnen Weine, zeigten teilweise eine unfassbare Konzentration von Espresso- und Latte-Macchiato-Noten. Das war nicht ‚nur meine Meinung‘, zehn Personen saßen da und diskutierten mehr oder weniger ernsthaft über das Phänomen. Es ergab sich manche Blödelei – ‚Wenn der Kellner gleich nach unseren Kaffee-Wünschen fragt, geben wir ihm unsere Gläser mit und sagen, er solle sie kurz in die Mikrowelle stellen; einen besseren Latte kriegen die hier auch nicht hin‘. Insbesondere beim ‚SLV‘ und dem ‚Cask 23‘ herrschte ‚Death by Latte Macchiato‘ – und das ist bitte nicht mit klassischen Kaffee/Mokka-Aromen zu verwechseln, die Sie von vielen Rotweinen aller Art kennen. Endgültig einsehen, dass ich einem Irrtum aufgesessen war, musste ich, als unser Gastgeber erklärte, dass Stag’s Leap grundsätzlich nur mittelstark getoastete Holzfässer verwendet, leichter in der Röstung als der kalifornische Branchendurchschnitt. Da saß ich nun mit meiner Theorie. Das bedurfte der Überprüfung. Ich bat um Musterflaschen.
Stag’s Leap 2012 – klein sticht groß
Zwei Weingärten gehören zum Weingut Stag’s Leap: der rund 26 Hektar große ‚Fay‘ und der 15 Hektar große, namensgebende S.L.V. (Stag’s Leap Vineyard). Das sind eher europäische Dimensionen und so kauft das Weingut noch eine Menge Trauben zu für die Basisqualitäten. Fay und SLV ergeben je eigene Weine, die besten Fässer aus ihnen werden zum Flaggschiff-Wein ‚Cask 23‘ vermählt. Viel könnte ich jetzt noch schreiben über Sinn und Unsinn der ‚Bestes Fass‘-Geschichten, bin ich doch auch so manches Mal dem Reiz der ‚Reserve‘ erlegen und habe zusätzliche Vermögensverfügungen getätigt, denen später kein flüssiger Mehrwert gegenüberstand – aber das ist ein anderes Thema. Kurz gesagt: in der die Veranstaltung beschließenden freien Verkostung war SLV 2012 binnen Minuten geleert, der Cask 23 ging überhaupt nicht zur Neige. Fay spielt eh eine Liga drunter, also beschränkte sich mein Interesse auf zwei Weine, die ich über mehrere Tage blind verglich. Dabei lag der Cask 23 dann unmittelbar nach dem Öffnen vorne, je länger die Luftzufuhr dauerte, desto deutlicher stellte sich aber der alte Abstand wieder ein.
Stag’s Leap Wine Cellars, Cabernet Sauvignon ‚S.L.V.‘, 2012, Stag’s Leap District/Napa Valley, Kalifornien. Am ersten Tag extrem viel Latte Macchiato in der Nase, dazu Toffee, Eierlikör, Karamell und Baileys und erstaunlich wenig Frucht. Am Gaumen ist der Alkohol (14,5%) spürbar, wieder wenig Frucht und ein guter Schuss ‚Caramel Macchiato‘, wuchtig aber nicht zu heftig, ordentlich balanciert mit guter Säure. Auch wenn der Abgang ewig lang ist und mit allen möglichen Kaffeevariationen begeistert, ist der Wein nur sehr gut und nicht groß. Im weiteren Verlauf allerdings zeigt sich mehr Frucht, würziger Tabak, der Latte Macchiato beschränkt sich mehr auf den unendlich langen Abgang (wo er wundervoll wirkt) die Säure tänzelt mehr, der Alkohol zieht sich zurück und der Wein wird gigantisch. Am dritten Tag der beste junge Cabernet, den ich bisher trinken durfte. Nahe an der Perfektion und sogar die 111 Euro wert, die ich im Internet als niedrigsten Preis finden konnte.
Stag’s Leap Wine Cellars, Cabernet Sauvignon ‚Cask 23‘, 2012, Stag’s Leap District/Napa Valley, Kalifornien. Der Wein ist in Nase und Gaumen zunächst subtiler als der kleine Bruder. Rote Beeren, Cassis, Pflaume und nur wenig Latte Macchiato, aber alles nicht sehr expressiv. Auch am Gaumen weniger Kaffee, ein bisschen beerig, weniger wuchtig, leichter, viel eher ein konventioneller Rotwein, extrem elegant und im Abgang perfekt. Das ist wirklich groß. Als der SLV dann aber alles zeigt, knickt der Cask 23 ein: nach drei Tagen hat er immer noch eine schlanke Art mit ganz viel Zug zum Tor, dass man mit der Zunge schnalzen will, im Abgang verblasst die Magie aber und der Wein geht arg in die Breite. Zunächst mehr Frucht, auch sehr schön strukturierende Säure, diese Struktur fällt nach hintenraus aber in sich zusammen, und zwar deutlich. Es ist nicht gesagt, dass sich das mit Flaschenreife nicht noch findet, aber ich würde keine 200 Euro darauf wetten, wenn ich für wenig mehr als die Hälfte den SLV kriegen kann.
Wenn Sie mich also jemals wieder dabei erwischen, wie ich Zusammenhänge zwischen deutscher Herkunft oder dünnschaligen Trauben, Holz und Espresso-Noten herleite, dann hauen Sie mir auf die Finger. Wenn Sie Gleiches in älteren Berichten in diesem Blog finden, dann lächeln Sie und denken bitte an lebenslanges Lernen. Zum Dank gibt es einen Bonus Track:
Columbia Crest, Private Reserve ‚Walter Clore‘, Rotweincuvée (M: 68%, CS: 20, CF:12), 2011, Columbia Valley, Washington State. Ganz am Anfang der Verkostung kam dieser Wein ins Glas. Er kostet 26 Euro und war so gut, dass ich ihn den ganzen Abend parallel zu allem, was noch kam, verkostete. Den Fay von Stag’s Leap konnte er locker abgrätschen, erst bei SLV und Cask 23 fand er seine Meister, auch bei der späteren Überprüfung zuhause. In der Nase etwas Teer, reichlich Röstaromen aber kaum sonstige Holznoten, eher als hätten ein paar Rappen mitgegoren, drahtiger Körper, saftig, (bloß nicht zu warm werden lassen), reichlich Tannin im Abgang, aber auch Kakaopulver (inklusiv angenehmer Bittertöne), Kirsche und vor allem Pflaume, dezent Cassis und weitere Beeren, man möchte den Wein kauen, wenn man die Röstaromen verträgt. Macht süchtig. Langer Abgang mit Röstaromen, die nicht austrocknen. Wenn Sie einmal eine Merlot-dominierte pazifische Bordeaux-Cuvée mit bemerkenswertem Preis-Leistungsverhältnis probieren wollen, die an flüssiges Grillgut erinnert ohne auf Eleganz zu verzichten, dann ist das ein Kandidat für Sie.
Ich hatte letzthin den 2010er „Walter Clore“ und der war seeehr Vanille dominiert. Das war nicht ganz meins… Vielleicht legt sich das ja mit der Zeit!?
Grüße ralph
P.S.: Stags Leap SLV würde mich ja schon mal reizen, nur der Preis…