Die After-Show-Party

Das schönste an einer Weinprobe ist für viele das Bier danach. Da ich Bier nicht gut vertrage, bin ich nicht in Versuchung: Für mich ist das schönste an einer Weinprobe die Weine danach. Das liegt auch daran, dass die meisten von mir besuchten Weinproben keine professionellen Verkostungen, sondern Versammlungen von Enthusiasten sind. Und nach dem offiziellen Programm beginnt bei solchen das etwas planlose aber umso begeistertere Querbeet-Blind-Probieren. Nach der letzte Woche beschriebenen Lembergerprobe war es wieder soweit und diesmal oblag es mir, den Zeremonienmeister zu geben.

Diesem Zeremonienmeister kommt die besondere Rolle zu, die Stimmung seiner Gäste zu spüren und den dazu passenden nächsten Wein zu finden. Dabei sollte er Selbstbeherrschung an den Tag legen, der Versuchungen sind viele. Er ist der einzige, der weiß, was die Gäste im Glas haben und das gilt es, die anderen niemals spüren zu lassen. Idealerweise lenkt er sie behutsam in die richtige Richtung, stellt der Reihe nach Konsens über Rebsorte(n), Anbaugebiet, Jahrgang und weiteres mehr her, denn das größte Vergnügen bei der After-Show-Party ist das gemeinsame Erraten des Glasinhaltes. Jede hochgezogene Augenbraue bei weit am Glasinhalt vorbei zielenden Mutmaßungen gilt es zu unterdrücken. Überhebliche Moderatoren sind die schlimmste Form des Party Poopers. Also steuert er demütig und mit Pokerface den Dialog der Gäste bis er in der Hoffnung aufdeckt deren Geschmack getroffen zu haben.

Los geht das Ratespiel häufig mit einem Reparaturwein, nach Rotweinproben meist einem süßen Riesling. Letzte Woche startete ich meinen Job unter erschwerten Bedingungen, denn nur zwei Mitstreiter gelüstete es nach einer Auslese, der Großteil wollte noch ein wenig weiter die Reste aus den Rotweinflaschen nachverkosten. Also öffnete ich eine Halbflasche. Kaum war das Plopp des Korkens verklungen, änderten jedoch alle Teilnehmer ihre Meinung. Also folgte eine ganze Flasche einer weiteren Auslese – die After-Show-Party trägt auch den Beinamen ‚Stunde der Kühlmanschetten‘. (Kühlmanschetten sind sowieso das wichtigste Weinzubehör, wenn mehr als drei Weinfreaks in einem Raum sind).

Eine weitere Versuchung, der es zu widerstehen gilt, ist der Wunsch möglichst teure Flaschen zur blauen Stunde zu öffnen. Schließlich haben die Gäste schon mehr als 20 Weine probiert, da geht es nicht mehr um die letzte Feinheit, sondern um ein paar Überraschungsmomente. In meinem Weinvorrat befinden sich Flaschen, die ausschließlich solchen Gelegenheiten vorbehalten sind – meist Restflaschen eines ehemals größeren Postens besonderer Weine. Die zweite Runde läutete genau so ein Wein ein: Kellers Neumond von der Weinentdeckungsgesellschaft. Und hier ging es mit mir durch, einer der Tipps zum Riesling war zu eindeutig (‚Dieser Wein ist ein Unikat‘). Der Neumond war rasch identifiziert. Trösten konnte mich der Glasinhalt: so gut wie letzte Woche hat sich der Keller bisher noch nicht präsentiert. Nach kurzer Erläuterung der Weinentdeckungsgesellschaft kam der nächste Wein offen ins Glas, meine letzte Flasche ‚Roter Baron‘ – Knipsers Beitrag zum Projekt. Aber Höhen und Tiefen liegen nah beieinander – der Rote Baron war uncharmant. Drei Tage später trank ich den Rest der Flasche und er hatte seine sehr kantige Art abgelegt, war ein angenehmer Rotwein; der Zauber der frühen Flaschen ist aber wohl dahin.

Einen letzten Wein hatte ich noch im Köcher. Es galt eine Scharte auszuwetzen. Knapp ein Jahr ist es her, dass ich mich mit der Hälfte meiner Gäste zu einer kleinen frugalen Probe mit dem Thema ‚Bordeaux unter 25 Euro‘ zusammengefunden hatte. Ich hatte – halb scherzhaft, halb größenwahnsinnig – angekündigt, den Siegerwein mitzubringen. Einen Abend vor dem Showdown feierte ich eine gelungene Generalprobe mit dem Wein um dann Tags darauf mit einer schwachen Flasche den letzten Platz zu belegen. Die allerletzte Flasche Rollan de By 2003 lag seitdem zur Ehrenrettung bereit. Und da war es, das versöhnliche Ende. Es war die perfekte Flasche eines perfekt gereiften Bordeaux. Einzig ein Luxusproblem tat sich auf: Wenn man für 15 Euro so gute, langlebige Rotweine aus Bordeaux kaufen kann, warum soll man dann überhaupt etwas anderes trinken, fragte einer der Gäste. Aber das war vermutlich eine Scherzfrage.

Und das gab es zu trinken:

Kerpen, Wehlener Sonnenuhr Auslese **, 2006, Mosel: Sehr gut aber jahrgangsbedingt auch sehr dick. Hält sicher noch eine Weile

Ludwig Thanisch & Sohn, Brauneberger Juffer Auslese **, 2005, Mosel: Schlanker als der Kerpen, mit angenehmen Gerbstoffen, die der Süße etwas entgegenstellen.

Keller, Neumond, Riesling, 2009, Rheinhessen: Derzeit in fantastischer Verfassung, wer einen hat, jetzt öffnen und nicht dekantieren.

Knipser, Der Rote Baron, o.J., Pfalz: Derzeit lieber nicht anfassen oder länger dekantieren.

Chateau Rollan de By, 2003, Bordeaux: Der Wein ist seit nunmehr 9 Jahren unverändert eine Granate.

Mein erster Latour

Ich habe mir einen Traum verwirklicht. Die vollständige Beschreibung meines Traumes geht ungefähr so: Ich möchte einmal im Leben einen in Würde gereiften Premier Grand Cru Classé aus Bordeaux trinken (genauer: Medoc, also Chateau Mouton Rothschild, Margaux, Lafite, Latour oder Haut-Brion). Dabei liegt die Betonung auf trinken, denn probiert habe ich schon mehrere dieser Weine. Bei meinem Traum geht es um eine ganze Flasche für mich und meine Frau (die kaum Rotwein trinkt und daher nicht ins Gewicht fällt). Ich habe einiges an Arbeit in diesen Traum gesteckt. Die will ich hiermit protokollieren.

Die Moral (wenigstens hier kommt erst die Moral und dann das Fressen)
Darf man einen Wein für über hundert Euro die Flasche trinken, wenn gleichzeitig hunderte Millionen Menschen nicht mal sauberes Trinkwasser haben? Ich finde, das ist eine berechtigte Frage. Meine Antwort ist ein bedingtes Ja. Menschen, die sich jeden Dienstag einen 300€-Wein aufmachen, weil Dienstags eben ,Latour-Tag‘ ist und die die angebrochene Flasche dann dem Ausguss übereignen, wenn um Mitternacht der ,Yquem-Tag‘ anbricht, wären mir vermutlich unsympathisch (so ich ihnen denn je begegnete). Aber dafür, sich als Weinliebhaber den Traum von einem der berühmtesten Weine der Welt zu verwirklichen, muss man sich nicht schämen. Mein Latour kostete deutlich weniger als viele andere Wunsch-Erfüller wie eine Fahrt im Fesselballon, Bungee-Irrsinn an berühmten Orten oder exklusive Eintrittskarten zu Festspielen in Salzburg oder Bayreuth. Es fragt ja auch niemand einen Stones-Fan, wie er bitte für ein Konzert-Ticket 150 Euro bezahlen kann, während anderswo Menschen Hunger leiden. Als Weinfreund höre ich vergleichbare Fragen häufiger.

Die Weinwahl
Schlechte Jahrgänge großer Weine werden von Kennern oder wohlhabenden Trotteln getrunken – erstere können auch in schwachen Vertretern eines Weines dessen Typizität erkennen und sich an ihr erfreuen, wofür sie bewusst in die Tasche greifen, letztere sind die Dummen, die es braucht, um den durchgeknallten Bordeaux-Markt am Leben zu erhalten. Ich bin weder das eine noch das andere, hatte mir eine Budgetobergrenze gesetzt und wollte was anständiges ins Glas bekommen. Also benötigte ich einen Wein, der von Parker nicht in unbezahlbare Sphären geschrieben, einigermaßen verfügbar und mindestens gut beleumundet war. Der Jahrgang 1989 bot sich an; ein Jahr, von dem ich im Internet gelesen hatte, dass seine Weine sich sehr gut entwickelt haben und von dem Parker selber irgendwo schrieb, er sei bei der Bewertung vielleicht ein wenig streng gewesen. Dass es Latour und nicht ein anderer Premier wurde, ist Zufall.

Die Vorbereitung
Mein Plan war alt und die Umsetzung hatte ich zunächst auf die lange Bank geschoben. Ein paar Wochen nach der Lehman-Pleite durchschritt der Sekundärmarkt für gereifte Bordeaux ein Tal der Tränen. Das war die Zeit für meinen Einkauf. 140€ bezahlte ich für meine Flasche. Zwischenzeitlich hatte sich der Preis erholt, jetzt befindet er sich aber wieder im Sturzflug. Es sollte mich nicht wundern, wenn er demnächst noch unter mein Einstandsniveau sinkt.

Die Erwartung
Meine Erwartung war ganz einfach: ,Das wird eine mittelmäßige Erfahrung‘. Das lag vor allem an meiner nicht vorhandenen Bordeaux-Affinität. Einem Vegetarier ist es ja auch egal, ob ich ihm Hals oder Lende vom Schwein serviere, es wird ihn beides nicht begeistern. Den Plan für meinen gereiften Latour fasste ich schon vor bald zehn Jahren, da war ich mir meiner mangelnden Begeisterung für bordelaiser Gewächse nicht bewusst. Der gereifte Latour würde aber auf jeden Fall meinen Horizont erweitern.

Die Durchführung
So einem Wein sollte man einen würdigen Rahmen schaffen. Ich briet Rehrücken und in der Soße verkochte ich einen halben Liter eines vernünftigen Medocs, der immerhin auch schon 12 Jahre alt war. Ich trank den Wein zunächst solo und war wenig begeistert. Das war noch weniger, als ich erwartet hatte. Meine Frau sah das anders und trank den Latour mit Vergnügen. In der Hinsicht war er also etwas besonderes. Sie versprach, genügend zum Essen übrig zu lassen und ich machte mir etwas anderes auf. Zum Reh allerdings wandelte sich das Bild. Der Wein passte so dermaßen gut zu Bambi, dass ich bei einer Blindprobe den Inhalt meines Weinkellers verwettet hätte, dass es sich um einen anderen Wein als den zuvor probierten handele.

2013-02-03 20.28.35Das Fazit
Das war ein Erlebnis, das zunächst deutlich weniger und dann deutlich mehr Punkte als die in der Literatur allenthalben zu findenden 90 bekommen hätte, wenn ich denn Punkte vergeben würde. Es war eine positive Überraschung, die mich motiviert, Bordeaux nicht ganz aus meinem Weinkanon zu verbannen. Einen gereiften Premier für einen dreistelligen Flaschenpreis werde ich mir sicher nicht noch einmal zulegen, Anlass zur Reue sehe ich aber keinen.

Chateau Latour, Grand Vin de Chateau Latour, 1989, Premier Grand Cru Classé, Paulliac, Bordeaux. In der Nase Johannisbeere, Holz und Viehstall, alles nicht sehr intensiv aber sehr angenehm. Am Gaumen ist der Wein zunächst etwas langweilig, als Begleiter zum Rehrücken spielt er allerdings groß auf: viel süße Frucht, vor allem Johannisbeere, etwas Kirsche, die Säure verleiht Frische, das Tannin ist fein und gereift, trotzdem griffig, wirkt auch im sehr langen Abgang noch nach. Der Alkohol ist mit 12,5% sehr moderat. Der Wein hat eine tolle Struktur: voll und intensiv ohne schwer oder dick zu sein.

Potente Kunden

Meine Ehefrau überraschte mich letzte Woche mit der Ankündigung, sie habe Heißhunger auf Rinderfilet. Sprach’s und ging einkaufen. Ich konnte mich mit dem Gedanken gut anfreunden und dekantierte schon mal einen Bordeaux. Duhart-Milon 2001 sollte es sein. Die Zeit bis zum Essen verbrachte ich mit etwas Recherche im Internet. Was ich da fand, erinnerte mich einmal mehr an eine Filmszene, die ich vor Jahren sah und an die ich mich im Zusammenhang mit Bordeaux regelmäßig erinnere. In irgendeinem Fernsehkrimi klärte eine Prostituierte einen Polizisten über einen grundsätzlichen Sachverhalt ihres Gewerbes auf. Wörtlich sagte sie ‚es gibt keine Tausend-Dollar-Callgirls, es gibt nur Tausend-Dollar-Freier‘. Was sie damit wohl zum Ausdruck bringen wollte ist, dass es zwar Qualitätsunterschiede in ihrem Dienstleistungssektor gäbe, jedoch keine, die die teils exorbitanten Preise rechtfertigten, die die Spitzenverdiener der Branche einforderten. Es ist das Wissen um den hohen Einkaufspreis, das für einen wesentlichen Teil des Lustgewinns beim Kunden sorgt.

Ich glaube, es gibt eine Menge Waren und Dienstleistungen, die diesen Reflex zu bedienen wissen. Wein gehört dazu. Und unter den Weinen dürfte Chateau Lafite derjenige sein, bei dem sich Preis und objektive Qualität (so es so etwas bei Wein überhaupt gibt) in jüngster Zeit am weitesten voneinander entfernt haben. Da chinesische Weinliebhaber der festen Überzeugung sind, dies sei der beste Wein der Welt, hat ihre Nachfrage den Preis des Weines in wenigen Jahren verzehnfacht (ohne dass sich an der Qualität des Weines etwas verändert hätte). Und weil diese Überzeugung sich vor allem unter Menschen breit macht, die über viel Geld aber wenig Weinwissen verfügen, sind auch die anderen Weine der Domäne, etwa der Zweitwein Carruades de Lafite und sogar das Nachbarchateau Duhart-Milon – Domaines Barons de Rothschild (Lafite) in diesen Boom hineingezogen worden. So gibt es denn im fernen Osten Legionen von Menschen, die teils nur mittelmäßigen Wein mit größtem Vergnügen konsumieren, bloß weil er wahnsinnig teuer ist.

Soweit das gängige Märchen; die Wahrheit sieht wohl etwas anders aus. Denn mein Ausflug ins Internet zeigte mir: es gibt einen funktionierenden Sekundärmarkt für alle diese Weine in Europa. Auch in Kreisen, die vermutlich gerne und regelmäßig über ‚die Chinesen‘ spotten, werden für meinen Duhart-Milon mittlerweile 75 Euro bezahlt. Als ich ihn anschaffte, kostete er noch 25 und mehr könnte ich dafür unter Preis-Leistungs-Gesichtspunkten auch nicht ausgeben. Ich bin vermutlich nur ein Hundert-Dollar-Freier.

Chateau Duhart-Milon, 4ème Grand Cru Classé, 2001, Pauillac. In der Nase Leder, Pflaume, schwarze Johannisbeere, grüne Paprika, Zedernholz und Tabak,  eher leicht und kühl. Am Gaumen ist der Wein im besten Sinne schlank. 12,5% Alkohol sind kaum spürbar, trotzdem ist der Wein kein dünnes Weinchen. Feine Frucht (Pflaume, rote Johannisbeere) treffen auf etwas Mineralik und das, was in Weinkreisen so gerne Graphit oder Bleistift genannt wird. Die Säure ist spürbar aber passend, das Tannin ist weich. Der Abgang währt sehr lang. Es ist etwas abgedroschen, aber ich möchte den Duhart-Milon trotzdem ‚aristokratisch‘ nennen. 89 Punkte weist die Literatur als gängige Kritikermeinung zu diesem Jahrgang aus, mir gefällt er einen Hauch besser.

Simple Genüsse (1)

Eine kleine Neuerung im neuen Jahr. Die Artikel, die bisher ‚Füllwein‘ übertitelt waren, haben eine neue Überschrift. Ansonsten gilt auch für die simplen Genüsse: Mein (Wein-)Leben besteht nicht nur aus Großen Gewächsen sondern auch aus Alltagsweinen. Einige davon sind erwähnenswert, über andere decke ich den Mantel des Schweigens. Hier ein paar Kurznotizen zu Weinen, die ich jüngst getrunken und auf die eine oder andere Weise für besonders befunden habe.

Chateau La Rousselle, 2005, Fronsac, Bordeaux. In der Nase sehr fruchtig mit Cassis, Brombeere und Himbeere, dazu Leder, Kaffee und deutlicher Alkohol. Am Gaumen ebenfalls sehr fruchtig mit reifen Beeren, Kirsche und wiederum Kaffee und Bitterschokolade. Der relativ kräftige Holzeinsatz ist schmeckbar, eine leichte Teer-Note gesellt sich zu kräftigem aber nicht unangenehmem Tannin. Der Wein ist von mittlerem Volumen, kräftig aber nicht breit, trotzdem könnte die Säure akzentuierter und der Alkohol (13,5%) zurückhaltender sein. Der Abgang ist sehr lang aber etwas holzig. Insgesamt ein sehr guter Wein, der mir in ein paar Jahren vielleicht mal richtig großartig schmecken wird. Verträgt derzeit etliche Stunden Luft.

Lothar Kettern, Piesporter Spätburgunder trocken ‚Barrique‘, 2007, Mosel. In der Nase zeigt der Wein sehr viel Holz, daneben verblassen die anderen Eindrücke von Erdbeere, Grenadine und Blut fast. Am Gaumen ist der Wein mitteldick und mittelmäßig druckvoll. Er kombiniert eine straffe Säure mit viel Frucht: Kirsche, Himbeere, (gekochte) Erdbeere. Der Wein ist leicht mineralisch, wird mit Wärme etwas cremig und zeigt eine deutlich rauchige Holznote. Der Alkohol von 13,5% tritt dezent auf, der Abgang ist lang. Vom ganzen Typus ist dieser Wein so etwas wie der kleine Bruder von diesem hier.

Günther Steinmetz, Kestener Paulinsberg, Riesling Kabinett trocken, 2007, Mosel. In der Nase eine Stinkbombe. Man kann versuchen, es höflich als ‚Spontangärungsnote‘ zu umschreiben, aber ich will das Kind beim Namen nennen: der Wein riecht nach faulen Eiern – und zwar so heftig, dass für manch Weinfreund hier schon Schluss ist. Mir macht der Geruch weniger aus (wenngleich er meine Schmerzgrenze touchiert), und so kann ich auch etwas zum Gaumen schreiben: ein sehr trockener, gelbfruchtiger und recht mineralischer Kabinett mit schöner schlanker Struktur und krasser Säure (auch die flirtet mit meinem persönlichen Grenzwert). Vier Tage nach dem Öffnen hat sich die Stinkbombe kaum verzogen, es sind jedoch erste Aprikosennoten darunter zu erahnen. 12% Alkohol sind vollständig integriert. Ich glaube, das wird noch mal ein ganz toller trockener Kabi. Der Wein zeigt eine solche Frische, dass ich ihm die ewige Haltbarkeit unterstellen möchte, die viele dieser ‚Extrem-Spontis‘ an den Tag legen.

Wird Herbst da draußen – und im Glas…

So wie ich im Juli gelegentlich Spätburgunder trinke, mundet mir auch im Dezember Riesling, aber die Grundfarbe des Sommers ist Weiß, die des Winters Rot. Der Herbst ist die Jahreszeit, in der ich gedanklich auf Rotwein umstelle.

Dieses Jahr habe ich meine Rotweinsaison mit Bordeaux eingeleitet. Leider waren gleich drei Versuche nötig, bis ich die Premiere gelungen fand. Denn der erste Wein, den ich mir schnappte war extrem anstrengend:

(Grand Vin du) Chateau Phélan Ségur, Cru Bourgeois, 1996, Saint Estèphe. Am ersten Tag war der Geruch, der dem Glas entströmte unerträglich, auch nach Stunden in der Karaffe: Pferdestall, Brett oder wie auch immer (hier findet sich ein schöner Artikel dazu). Auch am zweiten Tag wird das nicht viel besser. Darunter etwas Liebstöckel, Pflaume und Johannisbeere. Am Gaumen milde Säure, Kirsche mit mittlerem Druck. Schöne Struktur, eher elegant (12,5% Alkohol) aber immer von den stalligen Noten überlagert, die sogar am Gaumen Spuren hinterlassen. Perfekt integriertes, reifes Tannin, mineralischer Abgang. Es könnte ein eleganter Wein sein, wenn er nicht so penetrant stänke. 85 Punkte

Der zweite Versuch war besser, aber auch noch keine würdige Saisoneröffnung:

Chateau La Louvière (André Lurton), Grand Vin de Graves, 1999, Pessac-Léognan. In der Nase Kirsche, Leder und Zigarrenkiste, das alles von mittlerer Intensität. Am Gaumen mäßig druckvoll, wirkt der Wein fast ein bisschen müde. Vielleicht ist er schon ein oder zwei Jahre über seinen Zenit. Johannisbeere, grüne Paprika, relativ wenig Tannin und kaum mehr wahrnehmbares Holz treten in Erscheinung, entfalten aber zu wenig Druck. Um als elegant durchzugehen, müsste der La Louvière komplexer sein. Der Abgang ist mittellang. 13% Alkohol sind sehr gut integriert. Ein schöner Alltagswein und seriöser Essensbegleiter aber nicht mehr.

Also schoss ich mit Kanonen auf Spatzen. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht noch einen vernünftigen Wein ins Glas kriege:

Cos d’Estournel, 2eme Cru, 1997, Saint Estèphe. In der aristokratischen Nase Leder und Zeder, nur wenig Frucht (Kirsche, Cassis, Blaubeere) und dazu etwas Veilchen, Bordeaux trifft Morgon. Am Gaumen fruchtiger mit Kirsche und Johannisbeere, dazu Holz, Teer und Speck bei erstaunlich abgeschmolzenem Tannin. Die Säure ist auf dem Punkt, relativ volles Volumen, ohne dass der Wein dick wäre, 13% Alkohol treten nicht besonders zu Tage. Sehr harmonischer langer Abgang mit mineralischen Noten. Das ist ein stimmiges Gesamtpaket, und ich glaube nicht, dass weitere Flaschenreife den Wein verbessert. Vor fünf Jahren deutete eine erste Flasche großes Potential an, das hat sich teilweise bewahrheitet. An der magischen 90-Punkte-Hürde scheitert der Cos jedoch knapp.