Punkteschleudern im Messlabor

Manchmal ist die Online-Weinszene ein schrulliger Haufen. Als dieses Jahr die Diskussion über die neuesten Ausgaben der gängigen Weinführer trotz mehrfacher Versuche nicht in Gang kommen wollte, versammelte man sich schließlich auf verschiedenen Webseiten, um episch darüber zu diskutieren, warum dieses Jahr denn nicht über den ,Gault Millau‘ diskutiert wurde. Wer da auf die Idee kommt, dem einen oder anderen fehlte es an sinnvollem Zeitvertreib, der liegt so falsch vermutlich nicht.
Ich hatte zu viel zu tun und muss mich deswegen wieder mit Verspätung äußern, dafür stellt mein Beitrag gleichzeitig eine Art Jahresrückblick dar – und da bin ich mal einer der ersten.
Die fehlende Reaktion auf die gedruckten Weinführer ist für mich die logische Konsequenz aus einem Trend, den ich seit einigen Jahren eher spüre als messe und dessen Manifestationen 2012 so vielfältig waren, dass ich vom Beginn eines Paradigmenwechsels sprechen will.
Punkte verlieren an Bedeutung. Und mit ihnen büßen diejenigen an Bedeutung ein, die sich vor allem über die Vergabe von Punkten definieren.
Punkte, wie sie Gault Millau, Eichelmann oder Wein Plus vergeben, sind viel mehr als Punkte. Sie sind Ausdruck einer Einstellung: Die Qualität von Wein ist messbar und wir haben die sensorischen Fähigkeiten dazu. Wir vom Weinführer haben keinen Gaumen, wir haben ein kleines Messlabor zwischen den Kiefern und 89 Punkte heißen nicht ,wir finden den Wein 89 Punkte‘, sondern ,der Wein ist 89 Punkte‘. Doch dieser Aussage schenken immer weniger Menschen Glauben. Nachdem sich alle bedeutenden Weinführer in den letzten Jahren teils massiv widersprochen haben und vor allem nachdem jetzt deutlich wird, dass kaum eine Prognose der optimalen Trinkreife aus den Führern richtig ist, wackeln die Throne.
Zugegeben: Punkte sind allgegenwärtig, kaum ein Mailing oder Prospekt kommt ohne aus. Ich könnte mir vorstellen, mindestens jede zweite Kaufentscheidung im gehobenen Segment ist irgendwie mit Punkten unterfüttert. Aber in der öffentlichen Diskussion spielen sie eine geringere Rolle. Es ist gängige Praxis guter Händler, alle Führer auszuwerten – irgendeine überdurchschnittliche Bewertung hat jeder Wein. Aber die Zahl der Konsumenten, die die Weinführer kaufen, um sie zu lesen, wird immer geringer, wenn ich den Stichproben im eigenen Freundeskreis vertrauen darf. Man braucht sie nicht mehr, denn der Handel bombardiert einen kostenlos mit den hohen Bewertungen.
Gleichzeitig war 2012 ein Jahr, in dem ich mehr und mehr Berichten begegnet bin, die sich nur der Begeisterung rund um Wein widmeten. Zum einen gibt es neue Formate wie Wein am Limit von Hendrik Thoma, in denen mit Begriffen wie ,Soulfaktor‘ für die Qualität eines Weines deutlich gemacht wird, dass diese eher empfunden als gemessen ist – Soulfaktor klingt nicht nach Labor. Stuart Piggot macht auch mit, turnt in seiner schon in die zweite Verlängerung gehenden Sendereihe Weinwunder Deutschland durch die Republik, um Subjektivität und Begeisterung zu versprühen. Seinen Weinführer hingegen hat er eingestellt. Jüngst veröffentlichte er in seinem Weinhier-Newsletter einen Bericht zu einer Silvanerprobe, bei dem er sich gewissermaßen entschuldigte, dass er in Probensituationen zur Differenzierung Punkte verwendet.
Carsten Henns Weinentdeckungsgesellschaft und das von ihm betriebene Vinum-Blog sprühen vor Liebe zum Wein und kommen ohne Punkte aus, in seinem Webprojekt ,Missionswerk Öxle‘ präsentiert er die Spassguerilla-Variante eines Wein-Kreuzzugs, ohne das Wort Punkte auch nur in den Mund zu nehmen – die Information, dass er als leitender Mitarbeiter auch eine Funktion bei der Punkteschleuder Gault Millau hat, muss man auf seiner Homepage lange suchen.
Stephan Reinhardt hat als Chefredaktor erst dem ,Weinwisser‘ (ein Einkaufsführer für besserverdienende Eidgenossen, die eine Anleitung zum Kauf von Weinen jenseits der 70 Franken benötigen) ein Social-Media-Event zum Thema Gewürztraminer angetan und ihn dann verlassen (ob es einen Zusammenhang gibt, weiss ich nicht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das Wort ,Missverständnis‘ zu dieser Liaison besser passte als ,Liebesheirat‘). Reinhardt übernimmt jetzt die Vinum und die Reaktionen der Weinwelt auf diese Personalie war vor allem die Formulierung von Hoffnungen, die Vinum könnte wieder zu einem sinnlichen Leitmedium für wahre Weinfreunde werden – eine Sehnsucht, der ich mich anschließe.
Die Reaktion des konservativen Teils der Weinwelt fällt wütend aus. Ein bekannter Verkoster eines Internetportals spricht beinahe wöchentlich Menschen (die er allerdings nie namentlich nennt) die Verkostungsbefugnis ab, weil sie ,Fruchtsüße nicht von Restzucker‘ oder ,Mineralik nicht von Phenolen‘ unterscheiden können, als käme es darauf an. Ein gelernter Journalist erklärte neulich auf Facebook, dass bloggende Weinhändler oder Sommeliers in etwa so problematisch seien, wie eine Nachrichtensendungen produzierende Bundesregierung – die Nerven scheinen blank zu liegen bei denen, die ihre Bedeutung schwinden sehen. Dazu zoffte sich die Weinwelt gleich mehrfach in diesem Jahr, ob die Verwendung des Begriffes ,lecker‘ dem Untergang der Weinkultur Vorschub leiste.
Die Demarkationslinie verläuft im Zickzack. Das präzise Messlabor findet sich im Mund von Profis wie Amateuren. Es gibt auch Hobby-Blogger die nicht müde werden zu erklären, wie ausgeprägt fein ihre Sensorik und unbestechlich ihre Punkteskala sei. Die von Dirk Würtz in seinem Blog und an anderer Stelle wiederholt ausgesprochene Einladung zu einer Blindverkostung zwecks Erbringung des Nachweises dieser herausragenden Fähigkeiten wird auch 2013 nicht angenommen werden, da wette ich eine der Flaschen Rüdesheimer Berg Rottland 2011, die der Würtz mir noch für meine zahlreichen Gastbeiträge auf seinem Blog schuldet (Achtung, Dirk: Zaunpfahl!).
Einer solchen öffentlichen Entzauberung bedarf es auch nicht mehr. Ich glaube, der Bann ist gebrochen. Gehört wird verstärkt derjenige, der auf ansteckende Art und Weise Gründe für seine Begeisterung liefert und nicht, wer am schneidigsten Verkosterfähigkeiten proklamiert oder Deutungshoheit beansprucht. Ich folge dem Weinzirkus jetzt gute sieben Jahre und es ist das erste Mal, dass ich den Eindruck gewinne, der Trend sei unumkehrbar. Darüber freue ich mich. Noch schöner wäre es, wenn die Entwicklung so von allen Teilnehmern aufgegriffen wird, dass alle Weinführer eine Zukunft haben und keine Arbeitsplätze verloren gehen. Aber damit das möglich wird, müsste der Gault Millau Markus Molitor erst mal die fünfte Traube verleihen…
Molitor_ZEltinger_SonnenuhrMarkus Molitor, Zeltinger Sonnenuhr, Riesling Kabinett trocken, 2007, Mosel. In der Nase mürber Apfel, etwas Aprikose, eine zarte Reifenote und Hefe, keine störenden Spontitöne. Am Gaumen zart, leicht aber nicht dünn, feine Säure, Apfel und Melone, ziemlich trocken, enorm mineralisch, leicht malzig, etwas kräutrig, mit viel Tiefe und sehr langen Abgang. 11,5% Alkohol sind völlig unauffällig.
Ich versuche mal, meine Begeisterung zu begründen: Dieser Wein ist leicht und verspielt aber dennoch von berauschender Intensität. Ihm mangels Konzentration die Größe abzusprechen, wäre wie Lionel Messi mangels Körpergewicht aus der Champions League auszuschließen. Vielleicht holen sich die Gault-Millau-Verkoster bei der nächsten Molitor-Probe Unterstützung aus der Redaktion des kicker. Dann klappt‘s auch mit der fünften Traube.

Der Ausflug war sehr schön

Ich hatte eine Affäre! Mit Dirk Würtz. Kurz war sie und heftig. Deswegen war hier so wenig zu lesen. Aber ich habe Schluss gemacht. Nun kann mein Leben weiter gehen. Ich habe den Kopf wieder frei.
Ich war ein paar Tage im Urlaub an der Mosel und habe unter anderem sechs Winzer besucht und ein paar Gastbeiträge für das Blog Würtz-Wein geschrieben. Gute und hervorragende Weine habe ich probiert. 2011 war ein sehr gutes Jahr an der Mosel, wenn auch kein ganz großes. Zwischendurch habe ich meine Eindrücke niedergeschrieben. Das war nervenaufreibend. Im Schnutentunker habe ich im Schnitt 50 Leser am Tag. Wer einen Rechstschreibfehler findet, darf ihn behalten. Mir ist hier nix peinlich. Bei Würtz-Wein verzeichneten meine Artikel mehr als 10.000 Seitenaufrufe am Tag. Da plagten mich Visionen von Heerscharen von Deutschlehrern, die die Kommentarspalten des Blogs mit Hinweisen auf fehlende Kommata füllen. Ich habe meine Ängste in Alkohol ertränkt, war zum Glück ein sehr guter Jahrgang, wenn auch kein ganz großer. Jetzt geht es hier wieder mit normaler Schlagzahl und in kleiner Auflage weiter. Auch wenn der Flirt mit der Reichweite ganz hübsch war, es hat Vorteile, vor sich hin zu werkeln.
Franzen, ,Der Sommer war sehr groß‘, Riesling trocken, 2011, Mosel. Die Lagencuvée ist vom Ausgangsmaterial eine Spätlese. Sie ist in der Nase herrlich fruchtig und absolut Rieslingtypisch mit Aprikose und Aloe Vera, überdeckt von ein bisschen Hefe. Am Gaumen wirkt der Wein ein bisschen mollig, weil die Säure dezent ist und er nur mittelmäßig trocken schmeckt. Schöne Frucht (Aprikose und Melone), ein bisschen Pistazie und eine sehr kräftige Mineralik – das ergibt einen wunderbaren Riesling. Der Abgang ist sehr lang.

Rufverwaltung

Seit einiger Zeit beginne ich meinen Arbeitstag mit immer dem gleichen Ritual. Ich werfe meinen Browser an und suche mit Tante Google das Web ab, was in den vergangenen 24 Stunden über unsere Firma geschrieben wurde. Desweiteren unterhalte ich offizielle Accounts bei den wichtigsten Internetforen, in denen regelmäßig unsere Dienstleistung besprochen wird. Dort logge ich mich ein und beantworte Fragen, kläre Missverständnisse und beziehe Stellung zu Kritik oder sage einfach einmal Danke für positive Meinungsäußerungen zu unserem Unternehmen. ,Reputation Management‘ ist der altdeutsche Fachbegriff für solcherlei Tun und es gehört als wiederkehrende Maßnahme mittlerweile zum kleinen Einmaleins des Marketing.

Wie hier schon verschiedentlich thematisiert, finden die meisten Winzer Marketing so hilfreich wie Zahnweh und so verwundert es nicht, dass in den dreieinhalb Jahren, die ich den Schnutentunker mit Inhalten befülle, nur ein einziger Winzer seinen Weg zu diesem Blog gefunden und einen Text in einem Kommentarfeld hinterlassen hat. Die Herren Würtz, Lippert oder Fiedler zähle ich nicht mit, die habe ich schließlich hinreichend provoziert, damit sie sich äußern.

Der Vollständigkeit halber: es war Stefan Steinmetz vom Weingut Günther Steinmetz, der seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, dass neben ihm noch ein zweiter Mensch auf diesem Planeten seinen Schwarzriesling für unbedingt trinkenswert hält (und das sind hunderttausend zu wenig, wie ich nicht müde werde zu predigen).

Vorletzte Woche kam fast ein weiterer Fall dazu und die Parallelen sind bemerkenswert. Wieder geht es um einen Rotwein aus einem Riesling-lastigen Betrieb und der liegt Luftlinie gerade mal 900 Meter entfernt auf der anderen Seite des Flusses. Allerdings reichte es nur zu einer E-Mail. Frau Grumbach vom gleichnamigen Weingut meldete sich per Mail, um für die Besprechung des sehr schönen 2005er Spätburgunders zu danken. Parallel unterbreitete sie mir das Subskriptionsangebot für den 2011er aus ihrem Hause.

Wir hatten die Diskussion über ,Push-Angebote‘ (um bei den altdeutschen Begriffen zu bleiben) bereits hier und ich wiederhole mich: Ich empfinde Anrufe und Mails aus den Häusern Molitor, Emrich-Schönleber oder Heymann-Löwenstein als kundenfreundlich, auch wenn ich mir im Klaren bin, dass sie nicht nur aus altruistischen Motiven erfolgen. Auch beim Grumbachschen Spätburgunder ,R‘ aus 2011 vermute ich mehr als Gewinnmaximierungsintention. Das Gut hat massiv an der Selektion und Qualität gefeilt und füllt gerade einmal 900 Flaschen. Dazu hat Mario Scheuermann dem Wein 93 Punkte gegeben. Das dürfte reichen, um das bisschen Wein auch ohne aktive Ansprache von Kunden zu verkaufen. Ich unterstelle Frau Grumbach also, dass sie mich auch kontaktierte, weil sie denjenigen, die Verbundenheit mit diesem Produkt geäußert haben, die Gelegenheit zur Bevorratung geben will.

Ich habe trotzdem Nein gesagt. Aber nur, weil ich nicht mehr weiß, wie ich all den Wein in meinem Keller jemals trinken soll. Was da auch noch liegt, sind sechs Flaschen vom 2007er Spätburgunder ,R‘ aus – wer errät es? – dem Hause Grumbach. Womit habe ich da wohl dieses Jahr die Rotweinsaison eröffnet…

Ein toller Spätburgunder von der MoselGrumbach, Spätburgunder -R-, 2007, Mosel. In der Nase fruchtig, Kirsche, Himbeere und gekochte Erdbeere, viel Holz, das sich mit zunehmender Belüftung zum Glück verflüchtigt, etwas kräutrig und dezent fleischig – insgesamt würde ich die Nase durchaus als ,typisch deutsch‘ bezeichnen. Am Gaumen ist der Wein ein Schmeichler: süß, Himbeere, prägnante aber nicht dominante Säure, ein bisschen rohes Fleisch, ein bisschen Speck, dezent mineralisch, noch einiges an Holz. Ich und mein Mainstream-Gaumen finden den Wein großartig. Ich glaube aber, dass auch anspruchsvolle Weinfreunde hier auf ihre Kosten kommen. Langes Finale und der Wein zeigt Potential für weitere Jahre. Ich freue mich richtig darüber, dass ich noch ein paar Flaschen davon habe.

Männerabend oder: Kein Wein für Tucholsky

Neulich veranstaltete ich einen Männerabend. Das mag auf den ersten Blick banal klingen, doch ist das für mich etwas besonderes, setzt ein Männerabend doch zwingend die Abwesenheit von Frauen voraus. Als Vater einer dreijährigen Tochter begehe ich Männerabende daher meist auf fremdem Terrain. Doch dieses Mal waren meine beiden Frauen ausgeflogen und als Strohwitwer konnte ich unter die Veranstalter gehen. Ich lud mir meinen Bruder ein, veranstaltete also die Basisversion eines Männerabends – einen Schuss Deluxe brachten jedoch mein Grill, zwei abgehangene Rib-Eye-Steaks sowie ein paar vernünftige Weine.

Brüder sind was wunderbares, kann man doch sein ganzes Leben mit Ihnen teilen. Dabei entwickelt sich mit Glück eine gleichberechtigte Freundschaft. Während Männer für ihre Mutter nie älter als zwölf Jahre werden, lassen sich Väter bestenfalls zu einer ordentlichen Kumpanei herab, freilich ohne je ganz den Lehrstuhl zu verlassen. Bei meinem Bruder und mir spielen die jetzt weniger als 5% Altersunterschied kaum noch eine Rolle. Jeder macht sein Ding, interessiert sich für den anderen und muss kein Mütchen mehr kühlen.

Ein wenig habe ich meinen Bruder beeinflussen können, als ich ihm vor einigen Jahren auf einer gemeinsamen Moselreise Rest- und Edelsüße Rieslinge näher bringen konnte. Deswegen tranken wir einen sehr guten 2007er J.R. junior von Rosch zum Aperitif und eine phänomenale 2006er Beerenauslese von Kerpen zum Nachtisch. Zum Steak hatte ich ein paar meiner wenigen Spanischen und Französischen Rotweine zur Auswahl gestellt. Doch mein Bruder überraschte mich mit der Ankündigung, mittlerweile hätte ich ihn auch zum Deutschen Spätburgunder bekehrt und da es die nie irgendwo zu trinken gäbe, täte ich ihm einen großen Gefallen, wenn ich einen aufmachte.

Brüder sind ideale Trinkpartner für Angeberweine, kriegen sie es doch eher nicht in den falschen Hals, wenn man Weine mitsamt Preis oder Hinweisen auf ihr Renommee serviert. Es erschien mir also als gute Idee an der Mosel zu bleiben und etwas zu servieren, was man vermutlich als teuersten und besten Spätburgunder des Gebietes bezeichnen darf. Einen *** Spätburgunder von Molitor.

Männerabend DeluxeNach dem leckeren Essen, zu dem der Wein sehr mundete, saßen wir noch etwas auf der Veranda und philosophierten über Wein im Allgemeinen und die Stellung des Deutschen Spätburgunders im Besonderen, als meinem Bruder spontan folgendes einfiel: ,Erinnerst Du Dich noch an das Regal mit Deutscher Literatur in unserem Elternhaus?‘ sprach er, um sogleich fortzufahren: ,Da stand eine Taschenbuchausgabe von Tucholsky, deren Umschlag ein Zitat zierte: Liebe Herren Verleger, macht unsre Bücher billiger. Macht unsre Bücher billiger. Macht unsre Bücher billiger!‘ Herr Tucholsky griff damit die Klage eines seiner Leser auf, dass die neue Literatur sich so schwer einen Weg in die Herzen der Konsumenten bahnen könne, weil sie immer ungleich teurer als der althergebrachte Literaturkanon sei (tatsächlich schrieb ihm der Leser: Hoffentlich sterben Sie recht bald, damit Ihre Bücher billiger werden (so wie Goethe zum Beispiel) aber hier stößt die Analogie zum Wein an ihre Grenzen).

Wenn es Deutschlands Winzern ernst sei mit dem Ansinnen, ihren Spätburgunder in der Weltspitze zu verankern, dann sollten sie vielleicht nicht gleich beim ersten Achtungserfolg Mondpreise einführen, die den interessierten Laien vom Erwerb selbiger abschrecken – meinte mein Bruder. Da hat er nicht ganz unrecht, finde ich. Der Molitor, der damals 65€ kostete, was ihn schon aus dem Beuteschema ambitionierter Spätburgunder-Liebhaber katapultiert, steht mittlerweile mit über 90€ in der Preisliste. Da steige auch ich aus. Da entsteht bei mir der Eindruck, der Preis sei Mittel der Selbstverwirklichung, und ich bin Weintrinker, kein Therapeut.

Markus Molitor, Braunerberger Klostergarten Spätburgunder *** tr., 2005, Mosel. In der Nase mit sortentypischen Himbeeren, dazu Bleistiftspäne, rohes Fleisch, ansonsten eher mild. Am Gaumen ist der Wein von kräftiger Säure geprägt, ist saftig und ausserordentlich mineralisch, speicheltreibend, von mittlerem Volumen, mit sehr feinem Tannin und Anklängen von schwarzem Tee und Fliederbeeren. 14% Alkohol treten nicht weiter in Erscheinung. Der Abgang ist sehr lang, harmonisch aber nicht unendlich. Das ist ein ganz besonders schöner Wein, der unschlagbar wäre, wenn er 35 und nicht 65 Euro kosten würde.

Diese Kostnotiz entstand mit freundlicher Unterstützung meines Bruders.

Die Revolution frisst ihre Kinder

Als ich vor Jahren das Internet als Quelle des Weinwissens entdeckte, tobten in den einschlägigen Foren Diskussionen, die erbittert zu nennen mir noch untertrieben scheint. Zum einen ging es dabei um die Frage, ob man Moste irgendwie anders als spontan vergären sollte (eine Diskussion, der ich mich hier gewidmet habe und die ich jetzt nicht wieder hervorholen will), zum anderen um die Deutungshoheit bei der Gärunterbrechung. Zur Erklärung: bei der alkoholischen Gärung wird Zucker in Alkohol gewandelt und dieser Prozess setzt sich theoretisch fort, bis kein Zucker mehr übrig ist. Um einen Wein mit gewünschtem Restzucker zu erhalten, kann der Winzer den Wein machen lassen, bis er fertig ist und dann mit der sogenannten Süßreserve (unvergorener Most, der vorher beiseite gestellt wurde) wieder Zucker in den Wein füllen oder er unterbricht die Gärung an dem Punkt, an dem noch so viel Zucker unvergoren ist, wie er gerne in seinem fertigen Wein sehen würde. Letzteres führt zu deutlich weniger Alkohol im fertigen Wein als ersteres und wird daher gerne bei hochwertigen Ausgangsmosten angewendet. Die Gärunterbrechung erfolgt zum Beispiel durch starke Kühlung und anschließende Filtration. Dass die Gärung später nicht von allein wieder startet, verhindert dem Wein zugesetzter Schwefel.

Diese von Kritikern verächtlich ,gestopptes Zeug‘ genannten Weine erleben derzeit eine Renaissance und werden von Befürwortern als die Krone Deutschen Weinschaffens angesehen. Fragt man einen beliebigen Winzer, wie sein restsüßer Wein zustande kommt, geben meiner Erfahrung nach keine zwanzig Prozent zu Protokoll, sie hätten ihn abgestoppt. Über 80% erzählen, man sei so glücklich, dass die Gärung ganz spontan bei diesem Zuckerwert zum erliegen gekommen sei.

Schwefel macht Weine nicht nur mikrobiologisch stabil, sondern auch haltbar. Dabei spielt es keine Rolle, ob er dem Wein abschließend zugesetzt wird, oder sich auf natürliche – aber unerwünschte – Weise während der Gärung im Wein konzentriert. Viele spontan vergorenen Weine entwickeln nämlich während der Gärung einen dem Weinfehler Böckser sehr ähnlichen Schwefelwasserstoffton, den Weinfreunde gerne verharmlosend einen ,Sponti-Stinker‘ nennen und dem gerade Deutsche Rieslingtrinker erstaunlich tolerant gegenüber sind. Die Kombination aus Spontangärung, Abstoppen und Schwefeln ist eine weit verbreitete Produktionsmethode bei Spitzenbetrieben. Die so entstehenden Weine glänzen mit Langlebigkeit.

Ich hatte vorletzte Woche Besuch von Menschen, die einiges von Wein verstehen. Wir tranken diverse blind servierte Weine und meine Gäste lagen meist nicht weit daneben, wenn es darum ging zu bestimmen, was ich ihnen da kredenzte. Nur einmal musste ich innerlich schmunzeln, als die Runde darüber diskutierte, ob ein nicht ganz trockener Riesling in ihrem Glas aus dem Jahr 2009 oder 2011 stammt, der tatsächlich schon 1993 seinen Weg in die Flasche fand. Es handelte sich um eine hier bereits ausführlich besprochene 1993er Auslese aus dem Hause Thanisch, bei der die Spontangärung zu einem schweren Böckser geführt hatte, weswegen es schlappe 18 Jahre dauerte, bis er reuelos genießbar war. So frisch kann Schwefel halten.

Wie der Zufall es will, hat mein vinophiler Internetfreundeskreis diese Woche die zu diesem Erlebnis passende Sau durchs Dorf getrieben. Auf facebook und später auch in einem Blog ging es unter anderem um die Frage, wie viel Schwefel der Wein braucht und ob die oft recht schwefelhaltigen Deutschen Rieslinge überhaupt noch zeitgemäß sind. Dabei bekamen sowohl die ,Spontis‘ ihr Fett weg als auch restsüße Rieslinge im Allgemeinen.

Nun sind es die ganz trockenen Weine häufig aus südlichen Gefilden, die entsprechend nicht noch einmal zu gären anfangen und von einigen Extremwinzern gänzlich ohne Schwefel gefüllt werden, die eine Gruppe vorwiegend junger Weinenthusiasten aufs Schild hebt. Die Revolution frisst Ihre Kinder stelle ich fest, wenn ich lese, wie diejenigen unter Feuer genommen werden, die damals noch junge Weinfreunde vor zehn Jahren als revolutionäre Avantgarde feierten. Und noch etwas kommt mir in den Sinn: Es ist eigentlich die gleiche Diskussion wie vor zehn Jahren, nichts hat sich verändert, nur das Spielfeld ist breiter geworden. Der Eine publiziert auf der Website der Süddeutschen Zeitung sein Loblied auf das ,gestoppte Zeugs‘, der Andere schreibt in einer facebook-Gruppe, der Dritte antwortet in seinem Blog und ich versuche mich an einer Zusammenfassung in meinem. Hätte man alle Protagonisten wie vor zehn Jahren in ein Forum gesperrt, wären zünftig die Fetzen geflogen. Ob das jetzt einen Fortschritt darstellt, ist genau so Geschmacksache wie spontan vergorener Riesling.

Markus Molitor, Bernkasteler Lay, Riesling Spätlese trocken, 2007, Mosel. In der Nase am ersten Tag ein hoffnungsloser Stinker, einer von der Sorte, bei dem ich die Nase nicht mehr tief ins Glas stecken mag, um darunter liegende Aromen zu erschnüffeln. Am zweiten Tag ist der zumindest ein wenig verdampft und es zeigt sich Aprikose, Grapefruit und angeschlagener Feuerstein (was ja irgendwie auch in die Stinker-Richtung geht). Am Gaumen ist der Wein sehr frisch, wird am zweiten Tag cremig, zeigt über die gesamte Zeit wenig Frucht, extreme, kalkige Mineralik, Pistazie, Holunder. Der Riesling ist von mittlerem Volumen, wirkt sehr trocken, was er vermutlich gar nicht ist, denn irgendwo muss der Zucker bleiben und der Wein hat gerade mal 12% Alkohol (die zu keiner Zeit dominieren). Der Abgang ist nur mittellang, sonst wäre er eine Granate – so ist er ein sehr guter Wein.