Auf der Suche nach Quellen für die Geschichte über die falschen Geschmackszonen auf der Zunge stieß ich auf weitere Aussagen über das Schmecken, die nicht mit dem in Übereinstimmung zu bringen sind, was in der Weinwelt als ausgemacht gilt. Mein ehemaliges Lieblingsbuch zum Thema Wein, Jancis Robinsons „Der Degustationskurs“ (München, 2003; Original: Jancis Robinson’s winetasting work book, London, 2000) präsentiert auf Seite 79 folgende Weisheit:
„Es ist traurig aber wahr: in der Kehle gibt es keine Geschmackszellen. Daher müssen Sie Wein auch nicht schlucken, um ihn zu schmecken.“
Sie ahnen es? Richtig! Der Satz müsste heißen: Es ist traurig aber wahr, wer den vollen Geschmackseindruck eines Weines erfahren möchte, muss ihn schlucken, denn auf dem Gaumensegel, der oberen Speiseröhre und sogar noch auf dem Kehlkopf befinden sich Geschmacksrezeptoren. Wer spuckt, nutzt nur 75% seiner Geschmacksnerven.
Nun kann man argumentieren, dass die bloße Existenz der Geschmacksknospen an diesen Orten nicht bedeutet, dass man anders schmeckt, wenn man sie auch benutzt. Dem muss man aber fairerweise entgegenhalten, dass die Behauptung, es gebe keinen sensorischen Unterschied zwischen Schlucken und Spucken allein darauf beruht, dass es im Rachen/Kehle keine Geschmacksknospen geben soll. Ich ziehe also den nicht zwangsweise richtigen Schluss: Wenn die Begründung falsch ist, ist es die Behauptung wohl auch.
Die ersten Forschungsergebnisse, die die Existenz von Rezeptoren auf dem Gaumensegel belegen, stammen aus dem Jahr 1979. Es ist also wie schon bei den Zungenzonen keine ganz neue Erkenntnis, über die wir hier reden. Und es kommt noch etwas hinzu. Neben Geschmacksknospen und Riechzellen, trägt auch fühlen zu dem bei, was wir landläufig schmecken nennen: Scharfer Geschmack ist eigentlich ein Schmerzimpuls des Trigeminus-Nervs. Auch die kühle Erfrischung von Menthol oder Minze stammt (teilweise) von diesem Nerv. Und das ‚Brennen in der Kehle‘, welches Alkohol hervorruft, ist für mich Teil des Geschmacksbildes. Letzteres ist aber nur meine Meinung und die muss nicht richtig sein.
Es wäre so schön, wenn Schlucken und Spucken keinen geschmacklichen Unterschied machen, kommen doch Wettbewerbsergebnisse und Verkostungsnoten fast ausschließlich mit Spucken zustande. Der ganze Berufsstand der Weinprüfer und –verkoster hat es leichter, wenn Schlucken nicht nottut. Aber es sieht halt nicht so aus, als wäre das wissenschaftlich haltbar.
Weinbuch voller Fehler
Ein Wort noch zu Frau Robinson und ihrem Buch: Ich habe es immer für großartig gehalten und alles geglaubt, was drin steht – nicht zuletzt weil Frau Robinson den in der Weinwelt fast mythisch verklärten Titel eines Master of Wine trägt (ich ärgere mich im Nachhinein schwarz, hat doch schon meine Mutter mir eingebläut, ich solle nicht alles glauben, was man mir erzählt). Sowohl das Ansehen der Autorin als auch der MW-Ausbildung hat in meinen Augen sehr gelitten, seitdem ich die ersten 53 Seiten mit der Faktenlage des Internet abgeglichen habe. Nochmal zur Erinerung, die Nicht-Existenz von Geschmackszonen auf der Zunge ist nicht Gegenstand eines Gelehrtenstreits (wie die Theorien zum Untergang der Dinosaurier). Jemand hat etwas falsch übersetzt und 30 Jahre später wurde der Fehler korrigiert. Seit 1974 weiß man, dass das Kokolores ist und niemand behauptet das Gegenteil. Wenn Frau Robinson dann im Jahre 2000 schreibt (S. 53):
„Physiologen behaupten beispielsweise, dass der Grund, warum manche Menschen Unmengen von Zucker in ihren Tee oder Kaffee schütten, darin zu suchen sei, dass ihre Zungenspitzen nie wirklich mit dem Getränk in Kontakt kommen. Vielleicht müssen sie nur ‚richtig‘ trinken lernen, um ihren Zuckerkonsum drastisch zu reduzieren.“
Da muss ich schmunzeln. Bitte eine Quelle Frau Robinson: Nennen Sie uns einen echten Physiologen, der sowas sagt. Nur einen Namen bitte…
Ich habe den starken Verdacht, dass der Physiologe Jancis Robinson heißt.